Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fossil

Fossil

Titel: Fossil Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caitlín R. Kiernan
Vom Netzwerk:
Chance beginnt zu weinen, Tränen so warm wie Sonne und Wind.
    «O mein Gott.» Und dann sagt sie noch etwas anderes, das sie nicht richtig wahrnimmt, Gedanken, die ihr auf den Lippen verstummen, weil Chance keine Wörter kennt, die ausdrücken könnten, was sie fühlt, die ungeheure Freude und Ehrfurcht bei diesem Anblick, in diesem Eden, das sich unter dem edelsteinblauen Himmel erstreckt.
    «Wir hätten nicht gedacht, dass du an Götter glaubst.»
    Sie dreht sich um, und hinter ihr steht Elise, genau am Rand der Farne, wo der Sandstrand des Flusses beginnt, steht im windgewiegten, lichtgesprenkelten Schatten der Bäume und blinzelt angestrengt hinüber zu Chance. Elise, ja, aber nicht Elise’ Augen, das hier sind Augen, die von ihren eigenen Pupillen aufgezehrt wurden, die in das schwarze Loch ihres eigenen Blicks gestürzt sind. Sie ist nackt und nass und blutet.
    «Ich glaube nichts von alldem hier», sagt Chance und schmeckt das Salz ihrer Tränen. «Ich kann einfach nicht.»
    «Deine Großmutter konnte es auch nicht», sagt Elise, und sie lächelt, ein strahlend perfektes Piranha-Gebiss-Lächeln. «Dabei hatte sie mehr herausgefunden als du. Sie war sogar kurz davor, es zu begreifen.»
    «Musste sie deshalb sterben? Weil sie kurz davor war, das Rätsel zu lösen? Ist Dancy vielleicht dasselbe passiert?»
    «Ich bin nicht hier, um Fragen zu beantworten. Ich darf dir nichts erzählen…»
    Und bevor das Mädchen noch weitersprechen kann, rennt Chance zu ihm und schlägt es hart ins Gesicht, hart genug, dass es rückwärtstaumelt und in einem Dickicht aus überirdischen Wurzeln und Stämmen landet. Es greift nach einem Ast, erwischt ihn aber nicht, landet auf dem Hintern und starrt aus diesen grausamen Augen hinauf zu Chance. Das Lächeln um seine rasiermesserscharfen Zähne ist noch breiter, ein bösartiges, heimtückisches Grinsen. So hat sein Gesicht nicht mehr viel Ähnlichkeit mit Elise, sondern mehr mit einem Wesen, das so weit entfernt vom Menschen ist, wie man es sich nur vorstellen kann. Eine Maske, die zu fest über den Schädel gespannt ist, und das Geräusch aus seiner Kehle ist kein Lachen, obwohl Chance weiß, dass es fast dasselbe bedeutet wie ein Lachen.
    «Halt die Klappe!», schreit sie es an. Es nickt gehorsam, hört auf, das Kein-Lachen-Geräusch zu machen, hebt eine blasse, blutverkrustete Hand und zeigt auf Chance.
    «Ich könnte den Garten viel besser betrachten», sagt es und spricht wieder mit dieser murmelnden Eiswasser- und Säure-Imitation von Elise’ Stimme, «wenn ich auf den Hügel hinaufkäme. Ah, und hier ist auch ein Pfad, der direkt hinaufführt.»
    «Ich habe dir gesagt, du sollst die Klappe halten, du Wichser.» Chance greift sich ein großes Stück Treibholz und will dem Ding den Kopf einschlagen, auf dem lehmigen Boden verteilen, was auch immer in seinem Schädel sein mag. Aber die Kreatur löst sich in eine Wolke violetten Lichts auf, Licht in der Farbe eines Blutergusses, das anschwillt und Chance umschwärmt wie aufgeblähte auberginenfarbene Glühwürmchen. Und im Bruchteil einer Sekunde fällt der Wald auseinander, wird verschluckt, während das Licht sich in Nacht wandelt, in einen endlosen Himmel ohne Sterne. Eine Nacht, die Chance eng umschlingt, ihr die Knochen zu Pulver zermalmen könnte, wenn sie wollte.
    «Schließ die Augen.» Diesmal nicht Elise’ Stimme, sondern die von Dancy Flammarion. «Sieh dir nichts an, was es dir zeigt, hör nicht zu…»
    Aber Chance hat gar keine Gelegenheit mehr, die Augen zu schließen, bevor die übermächtige Nacht sie freigibt, sich zurückzieht. Chance liegt auf den Knien, zittert, und ihre Kleider sind durchnässt von Schleim und Wasser, das von den rauen Mauern des Tunnels leckt.
    Der Tunnel. Ich bin im Wasserwerkstunnel.
    Sie erkennt es am kränklichen Leuchten der phosphoreszierenden Pilzkolonien, hellgrüne Klumpen von dem Zeug sprießen überall um sie herum aus dem Boden wie Tumore. Der Tunnel endet nur ein paar Meter weiter, das weiß sie. Fünfzehn, oder zwanzig vielleicht, dahinter münden die niedrigen Felswände plötzlich in eine Art Höhle, zu der die Arbeiter vor über hundert Jahren durchgebrochen sein müssen. Die großen eisernen Rohre führen ab hier nach unten und sind dann nicht mehr zu sehen.
    Es ist so kalt, dass Chance’ Hände gefühllos werden und ihre Knochen schmerzen, ihr die Zähne wehtun. Sie stellt sich trotzdem hin und lehnt sich gegen die glitschige Tunnelwand, bis ihr nicht mehr schwindlig

Weitere Kostenlose Bücher