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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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ich bin um zwei Ränge zurückgestuft, ich halte nur vorübergehend die Stellung für meine Tochter. Wie ist denn Ihr werter Name, Genosse? Und dann brauche ich das Empfehlungsschreiben Ihrer Einheit und einen gültigen Personalausweis!
    LIAO YIWU:
    Ich bin nicht auf der Suche nach Arbeit, ich bin der zweite Sohn von Lehrer Liao aus dem zweiten Haus.
    MI DAXI:
    Der zweite Sohn? Du bist aber groß geworden, ich hätte dich beinahe nicht erkannt! Bist wohl jetzt ein reicher Mann, nach all den Jahren? Und womit hast du dein Glück gemacht? Warum hast du dich nie in der alten Heimat blicken lassen? In eurem alten Haus wohnt schon lange niemand mehr, das Wohnungsamt war schon ein paar Mal hier, um die Sache zu begutachten.
    LIAO YIWU:
    Meine Mutter überweist jeden Monat pünktlich die Miete. Das Haus liegt tief, durch die Ecken dringt die Feuchtigkeit, überall ist Schimmel, da kann man nicht mehr wohnen.
    MI DAXI:
    Deine Mutter trägt die Nase sehr hoch, sie hat sich nie bei den Einwohnern blicken lassen, und du als ihr Sohn hättest das auch einmal tun sollen!
    LIAO YIWU:
    Ich hatte das eigentlich vor, aber wenn es in dieser Gegend einmal regnet, dann ist sie unzugänglich wie ein Wasserverlies. Heute musste ich um so viele Ecken und Kurven, bis ich endlich beim Straßenkomitee war, dass mir schon ganz schwindlig wurde. Früher war das Nachbarschaftskomitee doch in der Zhengstraße, wenn ich mich richtig erinnere, schön gelegen, und Sie haben jeden Morgen vor der Tür Fahnenappell gemacht.
    MI DAXI:
    Du machst deinem Namen als Literat alle Ehre, ein Griff, und du gräbst die alten Sachen wieder aus. Ich bin jetzt seit über vierzig Jahren Direktor des Nachbarschaftskomitees, meine rechte Hand ist verkrüppelt, eine Arbeitsverletzung, aus diesem Grund bin ich damals von der Zahnradfabrik hierher versetzt worden. Damals habe ich das alles nicht richtig verstanden, denn in den sechziger Jahren war die Arbeiterklasse eigentlich das Nonplusultra, trotzdem, wenn man von einem Augenblick auf den anderen arbeitsunfähig wurde, stand man plötzlich mit den jungen und alten Klatschweibern in einer Reihe. Die Führungskräfte verschiedener Ebenen haben sich darum gekümmert und mich zum Volkskongress-Delegierten des Bezirks gemacht. Der große Wohnhof unserer Familie, von dem du sprichst, den haben wir gemeinsam mit dem Revierleiter Wang übernommen. Dort wohnte ursprünglich ein großer Kapitalist, er hatte eine Garnfabrik, seine Kinder haben sich nach Übersee abgesetzt, die beiden Alten sind übrig geblieben, sie hingen sehr an ihrer Heimat und wollten ihr nicht den Rücken kehren. Nach der Zusammenführung von privaten und staatlichen Betrieben, wie das damals hieß, ging seine Fabrik auf den Staat über und die arbeitende Bevölkerung war Herr im Haus. Er hatte nichts mehr zu tun und saß den lieben langen Tag untätig zu Hause herum. Im zweiten Halbjahr 1965 hatte die Kulturrevolution zwar noch nicht offiziell begonnen, aber der Pulvergeruch war schon zu riechen. Deshalb wusste der alte Kerl sofort, was die Stunde geschlagen hatte, als wir zu ihm kamen. Er hat auf der Stelle sein Fähnchen in den Wind gehängt, von wegen, er habe vor der Befreiung seine Brüder aus der Arbeiterschaft ausgebeutet, eine schwere Schuld, aber nach über zehn Jahren Klassenkampf und Klassenerziehung sei er ein neuer Mensch, er sei geläutert und habe schon lange vorgehabt, sich von dieser von seinen Ahnen auf ihn gekommenen Bürde der Ausbeuterklasse freizumachen und das Haus dem Staat zu stiften – bitter daran sei nur, dass er dann auf der Straße übernachten müsste. Der Revierleiter Wang machte kurzen Prozess, stellte ihm auf der Stelle eine Bescheinigung für das Wohnungsamt aus, das den beiden Alten für ihr Haus in der gleichen Straße ein Neun-Quadratmeter-Zimmer zuweisen sollte.
    LIAO YIWU:
    Aber was ihr da gemacht habt, war gegen das Gesetz.
    MI DAXI:
    In diesen Jahren war die Revolution oberstes Gesetz. Außerdem, die beiden Alten wohnten allein in einem großen Wohnhof mit über zehn Zimmern, sie hockten den ganzen Tag nur ängstlich in den Ecken herum. Um sie herum wohnten arme Leute, im Schnitt hatten alle nur ein paar Quadratmeter zum Wohnen, da war man als Kapitalist privilegiert! Da mussten sie ja Angst haben, in der Spucke der Massen zu ertrinken! Ich sage dir, das war eine gute Sache, dass wir aus dem großen Wohnhof dieses Kapitalisten ein Nachbarschaftskomitee gemacht haben, und es wurde von allen Bürgern begrüßt.

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