Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
verdreckt wie eine Müllhalde.
LIAO YIWU:
Heute müsste man einen Wohnhof von dieser Größe wohl mit zwei Millionen veranschlagen …?
MI DAXI:
Er ist abgerissen worden. Sehr schade drum. Aber nicht um das Haus ist es schade, es ist schade um das Geld der Regierung – wie viel sind denn die dreihunderttausend von damals noch wert? Auch die zehn Hoffnungsschulen [95] , die man gebaut hat, machten es nicht lange. Die Gasse davor lag genau auf einer Haupttrasse, es ist alles abgerissen worden. Hier ist ein toter Winkel, Businessleute sind hier gewesen und haben sich alles angesehen, hier ist es eng, es gibt keinen Straßenanschluss, außerdem ist das ein Nest von armen Leuten, hier ist kein Profit zu machen. Achja, um wegen Abbruch hier raus zu müssen, muss man Glück haben – aber wer Glück hat, zieht sowieso hier weg, wer nicht umziehen kann, der bleibt hier bis zum Jüngsten Tag. Viele Leute sind unvernünftig und kommen, wie sie es seit Jahren gewöhnt sind, wegen jedem Dreck zum Einwohnerkomitee gelaufen. Aber wir können selbst hier nicht raus.
LIAO YIWU:
Sie sind die Hauptstütze der Massen.
MI DAXI:
Und wer stützt mich?
LIAO YIWU:
Aber Sie dürfen nicht alles so schwarzsehen, auch wenn, wie Sie sagen, heute nicht mehr vom Klassenkampf die Rede ist, so ziehen doch viele von außerhalb zu. Die Lage ist kompliziert, wenn Sie in Ihrer Funktion nicht wären, würden die vom Nachbarschaftskomitee und von der Polizeistation kommen, man würde ihnen Sand in die Augen streuen und sie hätten niemanden, an den sie sich wenden könnten, um die Situation hier zu begreifen. Sie sind das Auge der Regierung, ihre Nase und ihr Ohr. Wo wird gespielt, wo wird untervermietet, wo hat einer keine Aufenthaltserlaubnis, wo lebt man illegal zusammen, das wissen Sie alles aus dem Effeff. Als ich klein war, erinnere ich mich, da hatten die Faulenzer hier aus der Nachbarschaft alle eine Heidenangst vor Ihnen, denn wenn das Amt für Öffentliche Sicherheit jemanden zur Arbeitserziehung schickte, musste es vorher Ihre Meinung einholen.
MI DAXI:
Das müssen sie immer noch, obwohl es in unserer heutigen Warenwirtschaft fast nur noch Geldstrafen gibt. Am Vormittag hat meine Tochter noch die Genossen von der Polizei von Haus zu Haus geführt, um die »befristeten Wohngenehmigungen« zu kontrollieren, dabei haben sie ein gutes Dutzend Leute mit unklarem Hintergrund festgenommen, die sie samt und sonders ins Auffanglager im Duobao-Tempel in der Vorstadt geschickt haben. Nach ihren Vergehen zu urteilen, hätte es Grund genug gegeben, sie zur Erziehung durch Arbeit zu schicken, aber nach nur ein paar Tagen, wenn jemand für sie die Strafe bezahlt hat, sind sie wieder draußen.
LIAO YIWU:
Was hatten sie denn verbrochen?
MI DAXI:
Glückspiel, Bordellbesuche, Ansehen von Pornofilmen, keine »befristete Wohngenehmigung«, oder die »befristete Wohngenehmigung« war abgelaufen.
LIAO YIWU:
Aber das sind doch keine Verbrechen. Das nennt sich doch »Probleme im Lebenswandel«.
MI DAXI:
Das Problem ist in deinem Kopf. Früher war sogar das heimliche Lesen von handgeschriebenen Kopien genug für die Erziehung durch Arbeit, ganz zu schweigen von so offensichtlichen Dingen wie Pornofilme und Bordellbesuche. Dieses Hippiemädchen, das neben eurem Haus wohnt, wurde angezeigt, weil sie handgeschriebene Kopien von »Das Herz eines Mädchens« [96] in Umlauf gebracht hat, so ein Schweinkram. Ich habe damals die Polizei aufgefordert, das zu untersuchen, die Leute wurden samt diesen Büchern gefasst. Man hat ihnen ein schwarzes Schild umgehängt, hat sie durch die Straßen geführt und angeprangert und sie für drei Jahre zur Erziehung durch Arbeit geschickt. Ihr Vergehen nannte sich »Verbreitung unsittlicher Schriften«.
LIAO YIWU:
Das waren doch alles Nachbarn, war es nötig, die Zukunft dieser Menschen zu ruinieren?
MI DAXI:
Ich sehe es auf den ersten Blick, was ein guter und was ein schlechter Mensch ist. Früher gab es einen koreanischen Film, »Die unklare Front«, den habe ich sogar ein paar Mal gesehen, weil er mich sehr bewegt hat. Ich habe sogar auf Kosten des Einwohnerkomitees die Leute von der Vereinten Verteidigungstruppe, die Aktivisten, die für den Verkehr zuständigen Leute und die Leiter der kleinen Bürgergruppen ins Kino eingeladen, um mich von ihnen belehren zu lassen. Wenn ich die Front nicht mehr erkennen kann, dann sind die Massen natürlich die einzige Rettung! Vor den achtziger Jahren haben wir zur
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