Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
zwölf Jahren.
LIAO YIWU:
Für welches Vergehen wurde er denn verurteilt?
LI YIFENG:
Konterrevolution. Genauer wurde die Straftat nicht benannt. Und vergessen Sie nicht, dass ich damals im Mutterleib war, mich mit beiden Händen stützend, ging Mutter zu ihm ins Gefängnis und übergab ihm bei dieser Gelegenheit einen Antrag auf Scheidung. Das war meine vorgeburtliche Prägung!
Mein Vater stammte aus der Gegend des Kreises Wan im unteren Ostsichuan, aus einer Stadt am Ufer des Yangzi. Später schaffte er die Aufnahmeprüfung an die Universität, ging in die Provinzhauptstadt und wurde dem Kulturverband zugeteilt. Nichts als Intellektuelle, ein Umfeld voller Phantasie und Spintisiererei. Aber die Phantasie und Spintisiererei meines Vaters hatten ihren Ursprung schon in seiner Kindheit, als er gern allein am Flussufer saß und den vorüberfahrenden Schiffen nachsah.
Gab es hinter diesem Wasser noch mehr Wasser? Gab es hinter dieser Welt noch eine andere Welt? Sie würden möglicherweise sagen, alle, die 1962 illegal die Landesgrenze überquerten, taten das, weil sie nichts zu essen hatten. Aber mein Vater tat es wohl nicht nur aus Hunger. Es gibt einen Film, der heißt
Paris, Texas
und erzählt die Geschichte eines Vagabunden, der sich einen Grund zurechtfabuliert, warum er nach der Stadt ›Paris‹ im amerikanischen Texas sucht. Wie es heißt, war das der Ort, an dem sich seine Eltern zum ersten Mal trafen und liebten, und weil dieses Zusammentreffen über seine spätere Geburt entschied, deshalb soll seine früheste Heimat ›Paris in Texas‹ gewesen sein. Und um sie zu finden, ließ der Vagabund Familie und Zuhause im Stich und zog immer weiter.
So ein Fernweh liegt im Blut, mein Vater war so veranlagt, und ich bin es auch. Er hat einen hohen Preis dafür gezahlt, mich hat es viel weniger gekostet. Die Zeiten haben sich geändert.
LIAO YIWU:
Das klingt ein wenig an den Haaren herbeigezogen, Chinesen überqueren die Grenzen des Landes entweder aus wirtschaftlichen oder aus politischen Gründen. Wer würde denn ein solches Risiko eingehen, nur wegen irgendeines Fernwehs und einer Veranlagung fürs Vagabundieren? Das bedeutet doch immerhin, sein Vaterland zurückzulassen.
LI YIFENG:
Mein Vaterland ist in dieser Umhängetasche, ein paar Bücher, ein paar Gedichte, ein chinesisches Wörterbuch und dazu ein paar Fotos von Frauen.
Ich weiß, wir haben jetzt Marktwirtschaft, und wenn man Geld hat, kann man auch normalere Wege gehen. Das Dilemma ist nur, dass ich kein Geld habe. Außerdem, wen sollte ich worüber in Kenntnis setzen? Die »Aufzeichnungen einer Reise in den Süden« von Ai Wu war immer unser Lehrbuch, auch er hat nie jemanden informiert, er ist einfach ganz alleine nach Rangun in Myanmar gegangen. Leider hat der alte Herr das nicht alles aufgeschrieben, er hat ein ganze Menge interessante Abschnitte weggelassen.
LIAO YIWU:
Es heißt, Ihre erste Grenzüberquerung sei nach Myanmar gewesen.
LI YIFENG:
Ja, Myanmar ist ein buddhistisches Land. Wenn man von der Stadt Ruili in Yunnan der Autostraße von Yunnan nach Myanmar folgt, gelangt man direkt zu der kleinen Grenzstadt Mangshi, dazwischen kommt man an die Huitong-Brücke, den Longling-Staudamm und eine große Flussbiegung im Kreis Luxi, bis man schließlich am Checkpoint Mukang steht. Wir waren zu dritt, der eine bezeichnete sich selbst als Journalist, der andere war ein Gemeindekader aus dem Kreis Wulong am Mittellauf des Flusses Wu, wir legten unser Geld zusammen und bestachen einen ins weltliche Leben zurückgekehrten Mönch aus Ruili, der uns dann zu dem einarmigen Wandermönch Ai Shan geführt hat.
Ai Shan war ein Kachin aus Myanmar und darauf spezialisiert, illegal Leute über die Grenze zu schleusen. Er war gut einsachtzig groß, seine gelbe Mönchskutte strahlte in der glühenden Sonne wie nichts anderes. Wir versteckten uns tagsüber und hetzten nachts meilenweit über irgendwelche Bergpfade hinter ihm her, nach ein paar Tagen waren wir mit unseren Kräften am Ende.
LIAO YIWU:
In welchem Jahr war das?
LI YIFENG:
Im Sommer 1989 .
LIAO YIWU:
Und das hatte keine politischen Gründe?
LI YIFENG:
Bei mir nicht, wie das bei den beiden anderen war, weiß ich nicht. Ich wollte erst mal in Rangun ein wenig arbeiten und sehen, ob ich irgendwie vorankommen könnte. Wenn nicht, wollte ich nach Hongkong weiter und in der Unterwelt verschwinden, und wenn mich das Schicksal in das Goldene Dreieck verschlagen hätte, um Opium zu pflanzen,
Weitere Kostenlose Bücher