Fräulein Hallo und der Bauernkaiser
bescheuerter aber war, dass der stoppelbärtige Offizier ein junger Absolvent einer höheren Schule aus Chongqing war! 1969 war er aus dem Lager eines Produktions- und Aufbaukorps in Yunnan hierhin abgehauen. Mitten im Verhör begann er plötzlich, mit mir über Alltäglichkeiten zu plaudern, und fragte, ob sich der Hafen Chaotianmen sehr verändert habe. Er sagte, er sei jetzt schon seit zwanzig Jahren im Krieg, aber seine Familie vermisse er nach wie vor.
Das war eine angenehme Überraschung für mich. Ich erzählte ihm alle möglichen Geschichten, sprach von den Veränderungen im Land und auch von den heftigen Schüler- und Studentenunruhen. Wir verfielen beide in den Dialekt von Sichuan und korrigierten immer wieder die Ausdrücke des anderen.
»Sie sprechen, wie man in Chongqing vor zwanzig Jahren gesprochen hat«, erklärte ich ihm, »vieles davon sagt man heute nicht mehr. Wissen Sie, wie die Mädchen in den Nachtklubs bei uns jetzt genannt werden? ›Gebrochene Ziegel.‹«
Der ehemals angehende Akademiker fragte zurück: »Die Gauner haben sich aber doch wohl nicht verändert, oder?«
Ich darauf: »Natürlich nicht, die ändern sich nie!«
Wir lachten beide lauthals, bis uns die Tränen kamen, die Volksarmee um uns herum kapierte nicht, was daran so lustig war. Danach befahl der inzwischen vierzigjährige Offizier, ein Festessen aufzutragen, und es kamen vier Gerichte und ein Krug Schnaps. Es dauerte nicht lange und ich war leicht beschwipst.
Der Beinahe-Akademiker sprach mit mir über Che Guevara, über das damalige Ideal des Internationalismus, über die mit ihm gekommenen Kampfgefährten, ebenfalls mit bester Schulbildung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits tot in den Schlachtfeldern fremder Länder begraben waren. Bewegt fragte ich ihn, ob er noch die Absicht habe, nach China zurückzukehren. Unerwartet antwortete er mit einer Gegenfrage:
»Du bist doch abgehauen, warum sollte ich also zurückkehren?«
Ich sagte ihm, ich hätte keine Alternative gehabt, ich sei ihm vielleicht in gewisser Weise nicht unähnlich, ein Idealist, der das Risiko suche. Er meinte daraufhin:
»Deine Ideale sind andere als meine. Dir geht es um dich selbst, mir geht es um die Menschheit. Wir Chinesen sind das letzte Häuflein von Idealisten im zwanzigsten Jahrhundert, nur wir gehen in fremde Länder und kämpfen – oder soll ich uns besser als seltene Tierart bezeichnen?«
Nachdem unser Gespräch mittlerweile so offen geworden war, bat ich ihn, mich gehen zu lassen. Mit einem Seufzer sagte er:
»Auch wenn wir unterschiedliche politische Ansichten haben, wir sind Landsleute, ich sollte das also tun und dich, obwohl das nicht unbedingt ein Ausweg ist, über den Pass lassen. Leider ist es dafür zu spät. Kaum eine Stunde nach deiner Festnahme hat mein Vorgesetzter davon erfahren und die chinesischen Grenzschützer informiert.«
Der Schreck machte mich auf einen Schlag wieder nüchtern. Wie eine Schlange, die in einen Eiskeller gefallen ist. Ich versuchte weiter alles:
»Sagen Sie, ich sei geflohen, ich würde Ihnen meine Rettung niemals vergessen.«
Mein Landsmann lachte hilflos:
»Überall sind Soldaten, und wohin könnte ein großer lebendiger Mensch fliehen, außer in ein Erdloch. Die Soldaten sehen es als ihre heilige Pflicht an, Befehlen zu gehorchen, es tut mir wirklich leid. Hätte ich vor der Meldung nach oben gewusst, dass du ein Landsmann bist und wir uns so gut verstehen, hättest du gar nichts mehr zu sagen brauchen, ich hätte schon … Aber so!«
Ich fiel krachend vor ihm auf die Knie und machte einen Kotau:
»Aber was soll ich tun? Wenn ich zurückgehe, dann ist das mein Untergang! Ich flehe Sie an, schauen Sie ihrem Landsmann ins Gesicht und erschießen Sie mich gleich, das geht schneller!«
Der Absolvent der höheren Schule nahm mich in die Arme und sagte:
»Nimm es doch nicht so schwer, Landsmann, wenn du wirklich keine anderen Motive gehabt hast, als einfach über die Grenze zu wollen, bekommst du höchstens ein, zwei Jahre, retten kannst du dich dann selbst, versteck dich nur nicht hinter irgendetwas! Um dir die Wahrheit zu sagen, ich bin inzwischen Regimentskommandeur und könnte die Truppe nicht mehr richtig führen, wenn ich mich von persönlichen Motiven leiten lassen würde. Ich bin kein gewöhnlicher Soldat mehr, ich kann nicht einfach aus meiner Haut, wenn es hart auf hart kommt, und querschießen!«
LIAO YIWU:
Als er das gesagt hat, müssen Sie doch ohne jede Hoffnung gewesen
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