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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Befreiung, vor allem während der Kulturrevolution, waren sie ständig hinter ihm her, haben ihn verhört, geschlagen, aufgehängt, und als sie ihn in ein dunkles Zimmer sperrten, war das gleich für viele Jahre, aber er wäre lieber gestorben als irgendetwas zu gestehen. Erst als sie ihn fast zu Tode gequält hatten, schickte er einen Verwandten zur Mianjiang-Kommune nach einem »Meister«. Als ich mit dem Meister ganz außer Atem ankam, starrte er mich mit weitgeöffneten Augen an und sagte kein Wort. Erst als ich seine Hand in meine Hände nahm und ihn mit seinem buddhistischen Namen ansprach, löste sich eine Träne aus seinem Auge. Ganz langsam entspannte sich seine Faust, und er gab mir dieses kleine Bildchen, das in viele Schichten von Kaschmirpapier und Baumwolle verpackt war, der Meister ging wortlos. Karma.
    LIAO YIWU:
    Amitofu, möge er in Frieden ruhen.
    DENG KUAN:
    Die Zeit vergeht im Nu, jetzt ist dieses Foto auch schon wieder über sechzig Jahre alt.
    LIAO YIWU:
    Aber der Meister Wu Kong auf dem Foto hat ein gütiges Gesicht, beide Ohren hängen herab bis auf die Schultern, ein Zeichen seiner Weisheit, beide Augen strahlen, er ist nicht mehr von dieser Welt, er ist ein Heiliger. Und dazu noch die Geschichte von diesem Fotografen … das ist unvergänglich.
    DENG KUAN:
    Amitofu.
    LIAO YIWU:
    Amitofu. Meister, in den letzten Monaten war ich fünf Mal hier, ich habe nahezu jeden Winkel des Alten Tempels gesehen, er ist wieder in einem ganz guten Zustand. Jetzt kann man vor allem Euch als den wichtigsten Schatz des Buddhismus im Umkreis von hundert Meilen bis hin zum westlichen Hochplateau bezeichnen.
    DENG KUAN:
    Jetzt ist aber genug mit den Scherzen! Hast du den Turm der heiligen Schriften gesehen?
    LIAO YIWU:
    Von außen. Mehlweiße Wände, einfache Ziegel, ähnelt ein wenig der Architektur der Tang-Dynastie oder von Kyoto. Die Aufschrift »Turm der heiligen Schriften« stammt von Yu Youren, einem Guomindang-Veteranen. Sie ist eines der Meisterwerke des Alten Tempels. Was Atem und Struktur der Kalligraphie angeht, übertrifft sie Zhu Yuanzhangs »Geradeaus und ohne Umweg« und das »Chan-Kloster Guangyan« aus der Hand des Kangxi-Kaisers [53] bei weitem.
    DENG KUAN:
    Zu Youren hat im Jahr vierundreißig der Republik, also 1944 , in den Qingcheng-Bergen auf einmal Buddhisten vom Verbleib der letzten Ausgabe des »Hongwu Nanzang« reden hören und ist voller Enthusiasmus zum Alten Tempel geeilt. Er stieg in den Turm der heiligen Schriften und hat einige Tage lang darin studiert, fast wäre er hier geblieben, so wohl hat er sich gefühlt. Herr Youren hatte einen schönen Backenbart, der ihm bis auf die Brust hinunterhing, sein Blick war einschüchternd, auch wenn er nicht zürnte, er hatte ein vorbildliches Benehmen, fast wie ein großer Konfuzianer. Auf Einladung des früheren Abtes schrieb er in Grasschrift [54] die Schriftzeichen für »Turm der heiligen Schriften«, es war Drachenflug und Phönixtanz in einem, das war
eine
Handbewegung, und dabei gestand er: Das gelingt mir nur selten!
    Vor ihm war auch Lin Sen, der Provinzvorsitzende der Guomindang, hier, er ließ sich in einem Tragesessel zum Alten Tempel hinauftragen, um das »Hongwu Nanzang« in Augenschein zu nehmen.
    LIAO YIWU:
    Wenn es der Meister erlaubt, möchte ich in Eurer Nachfolge ebenfalls in den Turm gehen, um die Sutren zu beten.
    DENG KUAN:
    Die Schriften sind nicht mehr im Tempel.
    LIAO YIWU:
    Sie sind zerstört?!
    DENG KUAN:
    Amitofu. Im Frühsommer 1951 ist Yao Tixin, der erste Kreisvorsteher des Kreises Chongqing, laut den Aufzeichnungen in den Kreisannalen höchstpersönlich zum Alten Tempel gekommen, ist sofort in den Turm der heiligen Schriften gerannt und hat, als er wieder herauskam, bekundet: Da die Masse der Mönche vor der Relaiisierung stünde und der Abt Deng Kuan schon während der Bodenreform zu den Großgrundbesitzer geschlagen worden sei, seien bei dieser ungeklärten Zuständigkeitslage im Tempel weder die menschlichen noch die finanziellen Ressourcen vorhanden, um einen nationalen Schatz von diesem Umfang aufzubewahren. Kreisvorsteher Yao war ein Intellektueller, er gab sofort den Befehl, den Turm zu schließen, die Schriften in Kisten zu verpacken und von Spezialisten aus dem Kreis begutachten zu lassen. Damals gab es keine befestigten Straßen, im Kreis wurden über hundert Lastenträger angeheuert, die diese an die drei Tonnen schweren buddhistischen Schriften den ganzen Weg bis nach Chengdu schleppten. Dort

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