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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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Einfluss Wang Xilins. Das Kulturbüro Peking Stadt unterzeichnete 1997 mit ihm einen Vertrag, dem zufolge nach zwei Jahren die Mittel bereitgestellt werden sollten, um eine Reihe seiner Symphonien zur Aufführung zu bringen. Nach vielem Hin und Her war es ein ziemlicher Schlag, als er am 5 . Dezember 2001 , also nach dreieinhalb Jahren, die offizielle Mitteilung erhielt, die »Konzerte seien abgesagt«. Damals liefen die Proben schon über eine Woche, aus der Schweiz war der Erste Geiger Egidius Streiff schon in Peking gelandet, was auch hieß, dass ein großer Teil des mühsam beschafften Geldes schon ausgegeben war.
    Wang Xilin, ein Mann von aufbrausendem Temperament, verlor auf der Stelle die Nerven, stürmte wie ein trauriger und aufgebrachter Bär gegen meine Haustür und schrie andauernd: »Vorbei, vorbei, der Friede, vorbei!« Ich gab ihm ein Glas Wasser, bat ihn, Platz zu nehmen, aber er wollte lieber im Stehen erzählen. Eigentlich hatte das Unheil schon am 24 . November seinen Anfang genommen, am ersten Tag der Orchesterprobe. Um seine Hochachtung vor dem Komponisten zu zeigen, hatte der Dirigent Tan Lihua morgens um neun spontan einen ordentlich gekleideten Wang Xilin gebeten, ein paar Worte an die Mitglieder des Pekinger Symphonieorchesters zu richten. Wang Xilin zierte sich ein wenig, bestieg dann doch das Pult und verkündete mit seiner klangvollen Stimme dem Konzerthaus: »Das zwanzigste Jahrhundert ist vorbei, im zwanzigsten Jahrhundert sind viele bedeutende Dinge geschehen, es gab zwei Weltkriege, und es gab einen gewaltigen Fortschritt in Wissenschaft und Technik. Aber ich glaube, das für die Entwicklungsgeschichte des Menschen wichtigste Ereignis des zwanzigsten Jahrhunderts ist – das bittere Ringen der Menschheit um den Kommunismus und seine letztendlich gnadenlose Verwerfung!«
    Er hatte das kaum gesagt, als ein Raunen durch die Reihen ging, aber unser guter Wang Xilin verneigte sich noch immer artig vor der erstarrten Masse. Ich machte ihm Vorwürfe, weil er in seinem Alter noch nicht gelernt hatte, den Mund zu halten, jetzt hatte er sich eine der besten Chancen zunichtegemacht: »Wann hätten Sie mit ihrer Musik mehr Menschen in unserem Land erreichen können!«
    Da fing der Gute an, sich selbst Vorwürfe zu machen, wie ein kleines Kind. Er habe die ganze Nacht durchgearbeitet, er habe unerträgliche Kopfschmerzen gehabt, jemand habe ihn denunziert, aber der Dreh- und Angelpunkt sei, an diesem Punkt setzte er ein ernstes Gesicht auf, er habe am Ende vergessen hinzuzufügen, dass der Kommunismus überall gnadenlos verworfen worden sei, außer in China!
    Anfang 2004 hörte ich schließlich bei Liang Heping zu Hause die Vierte Symphonie, die drei Jahre zuvor verboten worden war, und eine Reihe von anderen Werken wie »Mitleid mit dem Jahrhundert«, »Die Schwarzgekleideten« und »Das Gießen des Schwerts«. Ich hörte ehrfürchtig zu, wie Wang Xilin mit einer Stimme, die Steine zum Weinen brachte, Volkslieder sang und spontan über sie sprach. Ich war ganz hingerissen.
    Zwischen dem Nachmittag des 31 . Januars 2004 und dem 11 . Februar, einem Mittwoch, interviewte ich Wang Xilin in seiner abgelegenen und engen Wohnung. Davor hatten wir irgendwo zusammen etwas getrunken, was zu einer Art inoffiziellem Interview wurde.
    Wang Xilin ist jetzt 67  Jahre alt und hat den Charakter eines Neugeborenen, außergewöhnlich in seiner Freude wie in seiner Wut. Während unserer Gespräche brach er immer wieder in Tränen aus, immer wieder sang er zum Klavier längst vergessene Melodien und weckte damit fast schon verblasste Erinnerungen. Er enthüllte, welche Narben er davongetragen hatte, und gab freimütig seine eigenen Untaten, seine eigenen »Denunziationen« während der Sozialistischen Erziehungsbewegung zwischen 1963 und 1966 zu. Er bereute sie zutiefst. Dieser Mut zur Selbstdemaskierung ist selten in dieser Generation von Intellektuellen. Aber ich muss sagen, dass erst diese Einstellung Wang Xilins späte Symphonien möglich gemacht hat, die er selbst als »musikalische Zeugenaussagen« bezeichnet.
    ***
    WANG XILIN:
    Erinnern Sie sich an einen sowjetischen Film, er ist nach der »Tauwetterperiode« gedreht worden, ein Kind fragt seinen Vater, der in der Stalinzeit Gefängnisaufseher gewesen ist: »Hast du im Lager einmal einem Gefangenen in den Rücken geschossen?« Der Vater drückt sich vor einer Antwort. Aber der Junge lässt nicht locker und wiederholt die Frage drei, vier Mal. Schließlich

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