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Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
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hält es der Mann nicht mehr aus und springt vom Dach. Und in »Les Misérables« gibt es diesen Inspektor Javert, er ist pflichtgetreu und macht sich kein Gewissen daraus, dass er der brave Kettenhund eines autokratischen Regimes ist. Am Ende jedoch erträgt er es nicht mehr und stürzt sich in einen Fluss. Und in China? Im chinesischen Volk? Die Leute auf der Straße, in den Restaurants, in ihren kleinen Autos, vielleicht hat der eine oder andere von ihnen auch einmal jemanden verleumdet, jemanden denunziert, und heftig nach unten getreten, um selbst nach oben zu kommen. Die Leute, die Zhang Zhixin [57] und Yu Luoke [58] umgebracht haben, leben weiter, als wären sie im Recht gewesen, da steht kein Sohn auf und fragt, was sie in der Vergangenheit getan haben, wen sie verleumdet haben. Klebt an ihren schwarzen Beamtenmützen und an ihren Geldbeuteln kein Blut? Diese guten Väter in ihren westlichen Häusern, in ihren westlichen Autos, mit ihrem Erfolg und ihrem guten Namen, haben sie auch nur ein einziges Mal an Reue gedacht? Wie es Tolstoi in seinem dritten großen Roman »Auferstehung« beschreibt …
    LIAO YIWU:
    Und wie ist es zu Ihrer eigenen »Auferstehung« gekommen? Maestro, ist es in Ordnung, wenn ich ganz am Anfang beginne?
    WANG XILIN:
    Ich bin 1949 in die Armee eingetreten, von meinem zwölften bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr habe ich in der großen und warmen Familie der Revolutionsarmee gelebt und wurde von den großen Genossen in jeder Hinsicht behütet. Meine Gefühle für die Kommunistische Partei waren einmal tief und gefestigt, denn die Grundlagen für meine Musik wurden bei der Truppe gelegt. In der Partei sah man mich als einen guten Trieb, weshalb man mich aus dem Militärgebiet im Nordwesten nach Peking versetzte, ins Lehrerseminar der Spezialschule für Militärmusikdirigenten des Zentralen Militärkomitees. Ich habe die Truppe erst mit der Aufnahmeprüfung für das von He Lüding geleitete Konservatorium in Shanghai verlassen.
    LIAO YIWU:
    Ein günstiger Wind.
    WANG XILIN:
    Siebenundfünfzig kam ich zur Hochschule, immer noch in meinem Militär-Khaki. Ich stürzte mich aktiv in die Kampagne gegen Rechtsabweichler [59] , schnell wurde ich als Kader in die Studentenversammlung und den Kommunistischen Jugendbund gewählt, außerdem nahm ich als Vertreter des Shanghai-Konservatoriums an der Vollversammlung der jungen Aktivisten für den Aufbau des Sozialismus teil. Ich verachtete den weißen Weg des reinen Spezialistentums. Dank einer starken Physis machte ich aus dem Konservatorium eine Universität der körperlichen Arbeit, wir gruben Flussschlamm aus, den wir mit Tragestangen wegtrugen und mit dem wir Öfen bauten, in denen wir Stahl schmolzen, ich immer vorneweg. Diese Zeit hatte ihre eigene Magie, auf den Sportplätzen ragten kleine Hochöfen in die Höhe, selbst Fenster mit eisernen Rahmen wurden herausgebrochen und eingeschmolzen. Man kann sagen, dass ich vor dem dritten Studienjahr überhaupt nicht am Unterricht teilgenommen habe, der Campus sah aus wie eine große Baustelle, keine Atmosphäre für Musik. Bis 1960 die »Acht-Schriftzeichen-Leitlinien« erlassen wurden und alles neu ausrichteten, konsolidierten, untermauerten und steigerten, erst als der Große Sprung vorbei war, zog in der Schule wieder Normalität ein.
    LIAO YIWU:
    Was haben Sie getan, wo Ihnen doch so viel Unterricht fehlte?
    WANG XILIN:
    Ich hatte damals das Gefühl, langsam aus einem großen Traum zu erwachen, denn die Klassenbesten mit ihrem »weißen Spezialistentum« gehörten alle zur bürgerlichen Klasse, die wegen der Musik auf das Konservatorium ging. Sie kamen aus Musikerfamilien, und im Nu wurden sie auf internationalen Wettbewerben ausgezeichnet. Mit ihren Pokalen waren Leute wie Hong Teng und Duan Chengzhong ideal für das Ansehen Chinas. Ich hingegen ging wieder direkt mit der Zeit, ich war halt ein Landei, ein ziemlich ungehobelter Kerl, den die hübschen Prinzen und die kleinen Fräuleins keines Blickes würdigten. Außerdem war mein großer Bruder, der Medizin studierte, in geistige Umnachtung gefallen, er ist in Lan Zhou verhungert. Meine Schwester war Rechtsabweichlerin, weil sie einen Befehl nicht befolgt hatte, was gleich auf die Ebene konterrevolutionärer Umtriebe gehoben wurde – und sofort war auch ich kein »roter Trieb mit guter Wurzel« mehr. In mir brannte es, mir blieb nichts anderes übrig, ich fasste den Entschluss, mich auf die Technik zu konzentrieren und mich von der Politik

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