Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Fräulein Hallo und der Bauernkaiser

Titel: Fräulein Hallo und der Bauernkaiser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liao Yiwu
Vom Netzwerk:
fernzuhalten. Zu Beginn tastete ich mich alleine voran, ich hörte Material, experimentierte herum, bis ich ein Jahr vor meinem Abschluss Qu Wei traf, der in der Sowjetunion studiert hatte. Er nahm sich meiner voller Hingabe an, und mit einem Schlag gehörte ich zu den Besten.
    LIAO YIWU:
    Damals sollen sie das »Quartett« geschrieben haben?
    WANG XILIN:
    Damals gab es keinen Lehrer für das Hauptfach Komposition. Ich habe vor allem über die Bibliothek des Konservatoriums gelernt; Stück für Stück habe ich mich durch die Partituren von über dreißig Quartetten gewühlt, unter anderen die von Miaskowski, Schostakowitsch und Grieg.
    Ich machte mir eine Menge Notizen und habe mir eine Menge Methodisches abgeschaut. Und so schlich ich in den Sommerferien 1960 heimlich in ein Klavierzimmer und habe mit großer Konzentration angefangen zu komponieren. Nach über vierzig Tagen und jeder Menge Schweiß hatte ich ein dreisätziges »Quartett« von fünfundzwanzig Minuten im Großen und Ganzen fertig. Ding Zhinuo, die Tochter von Ding Shande, dem damaligen Leiter des Konservatoriums, und Mitglied der weiblichen Quartettgruppe arrangierte die Proben und die darauffolgende Aufzeichnung. Das hatte eine gewisse Wirkung am Konservatorium.
    LIAO YIWU:
    Man kann also sagen, nach drei Jahren kalter Studentenbude waren sie über Nacht berühmt.
    WANG XILIN:
    Für einen Studenten und für die Schule war das ein ungeheurer Erfolg, aber für die Prüfungskommission bei meinem Abschluss wurde mir eine ganz andere Rolle zugewiesen: ich traf auf die einhellige Kritik meiner Kommilitonen. So wie ich einige Jahre zuvor weiße Spezialisten verachtet und Rechtsabweichler attackiert hatte, hieß es jetzt über mich: »Wang Xilin hat sich der Erziehung durch die Partei nicht würdig gezeigt, er ist unbeirrt den Weg des weißen Spezialistentums gegangen und ist längst in gefährliche Grenzbereiche abgeglitten.« Vor allem ein gewisser Herr X, ehemaliger Mitaktivist und Studentenkader, schlug auf den Tisch und wies mich zurecht: »Du bist ja schon fast ein Rechtsabweichler!« Das hat mir einen großen Schreck eingejagt.
    LIAO YIWU:
    Waren Sie tatsächlich von links nach rechts gedriftet?
    WANG XILIN:
    Nein, ich hatte mich nur nicht mehr von meiner eigentlichen Arbeit ablenken lassen und verstanden, dass die Symphonie ein Produkt der westlichen Industriegesellschaft ist und kein Resultat von Volksliedersammeln auf dem Land. Marx sagt, das Fundament des Kommunismus liegt im Studium von sechshundert Jahren Geschichte von der Einzäunungsbewegung bis zur großen industriellen Revolution [60] , sechshundert Jahre der Kapitalakkumulation und nicht die fünfzehn Jahre, in denen der gute Mao mit seinem »Großen Sprung« Amerika ein- und England überholen wollte. Der Unterschied von Symphonie und Volkslied liegt in dieser jahrhundertealten Kultur und Geschichte und nicht in der Klassendiskriminierung. Wer Mist schleppt und Bäume fällt und im Ochsenkarren fährt, kann der sich auf den Kommunismus zubewegen? Natürlich, aber das ist ein um das Dorf kreisender Bauernkommunismus.
    LIAO YIWU:
    War Ihr Denken allen so weit voraus?
    WANG XILIN:
    Ich habe erst nach Jahrzehnten erfahren, dass man damals behauptete, ich sei rechts geworden. Aber damals war ich noch jung und voller Elan und fühlte mich unterdrückt. Nach dem Abschluss wurde ich dem Orchester des Zentralradios zugeteilt, ich fühlte mich wieder als »Liebling der Götter« und war davon überzeugt, dass das, was ich studiert hatte, nicht zu einem Radioorchester passte. Unter dem Vorwand, ich hätte von Volksliedern keine Ahnung, nistete ich mich im Gästehaus ein. Als die Partei uns »als Volksorchester« einsetzte, gehorchte ich nicht und blieb stur, einen halben Monat lang, bis der Führung nichts mehr anderes übrigblieb, als mich wieder woanders einzusetzen, in einem »Musikorchester«.
    LIAO YIWU:
    Und was war da anders?
    WANG XILIN:
    Das war ein wenig weiter weg von der Massenkultur und etwas näher an der Symphonie. Um dorthin zu kommen, musste ich auf schnellstem Weg meine erste Symphonie vollenden. Dass ich dafür ein Klavier brauchte, verstand sich von selbst, aber die Führung nahm darauf nicht die geringste Rücksicht, sie wollten meine Überheblichkeit stoppen. Und dann entdeckte ich eines Tages, es war reiner Zufall, in der Rumpelkammer ein altes Klavier. Ich war ganz aufgeregt, trommelte ein paar junge Männer zusammen und bat sie, mit vereinten Kräften dieses alte und

Weitere Kostenlose Bücher