Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
passiert ist.« Wie dumm, denke ich. Was soll ich denn dann mit dem Erzählten anfangen? Nun hätte ich zu gern dieses Regelbuch aller Psychologen und Therapeuten zur Hand gehabt, in welchem unter der Rubrik »Mann lässt Frau nach langjähriger Ehe sitzen« vier Beratungsoptionen stehen, von denen man sich eine aussuchen kann.
Ich lege meinen Arm um die Frau – sie reicht mir bis knapp an die Schultern – und versuche mit ihr zu gehen. Sie riecht nach feuchter Wolle und alter Haut, ihre dünne Windjacke kann sie kaum wärmen. Ich umfasse ihren zierlichen Körper und spüre das Beben und Zittern, das sie durchfährt. Wir laufen ganz langsam. Ich halte sie fest und schweige. Was soll ich nur sagen?, überlege ich krampfhaft. Wo beginnen? Mir wollen keine Worte der Ermutigung einfallen. »Es wird alles gut«, versuche ich sie schließlich in meiner Hilflosigkeit zu trösten.
»Nein«, schluchzt die Frau. »Er hat mit Teenagern in unserem Bett geschlafen, und ich – ich bin ganz allein. Nichts wird gut.« Ich fühle mich furchtbar, denn sie hat recht. Wo soll sie in dieser verlassenen Gegend jemanden finden, der sie zum Essen einlädt oder nachts ihre Hand hält?
Der dichte Wald um uns herum scheint mir stumm und gleichgültig. Sie müsse stark sein, fahre ich fort. Einen Mann, der einfach abhaue, habe sie nicht verdient. Sie solle froh sein, dass er weg sei. Ich finde mich furchtbar platt. Und die Frau gibt mir recht, indem sie »nein, nein, nein« wiederholt und weiter bitterlich weint.
Ich drücke sie an meine Seite und gehe Schritt für Schritt weiter. »Sie sollten wirklich zurück nach Hause, es wird in einer Stunde stockdunkel sein.«
Sie scheint sich zu fassen und nickt stumm.
»Ich wohne hier«, sage ich und zeige auf das Backsteinhaus, »falls Sie Hilfe brauchen, können Sie immer klopfen.« Ich glaube, dass ich ihr mehr als das nicht anbieten kann.
Sie schüttelt erschöpft den Kopf.
»Brauchen Sie Geld für einen heißen Kaffee im Country Store?«, frage ich.
Kopfschütteln.
»Haben Sie jemanden, den Sie anrufen können?«
Kopfschütteln.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als zu akzeptieren, dass sie meine Hilfe nicht annehmen will. Ich lasse sie los und beobachte einige Sekunden, ob sie auf eigenen Füßen stehen kann. Sie wendet sich mit einem mühsamen Lächeln und einem kaum hörbaren »Danke« von mir ab und wankt weiter. Ich stehe da und schaue zu, wie sie ihres traurigen Weges geht.
Ich muss an mein Ende mit Pano denken. Seitdem hatte ich mir geschworen, mir nie eine Heirat herbeizusehnen und auch nie zu heiraten. Damals bedeutete die Illusion eines solchen Versprechens für mich, nicht mehr alleine sein zu müssen, den Halt, der mir im Leben fehlte, durch einen Partner zu finden. Heute engt mich der Gedanke, nicht mehr alleine sein zu können, ein. Vielleicht hat sich mit diesem Beschluss, den ich nach der Trennung von Pano traf, endgültig mein Naturell, meine Sehnsucht, ein Cowboy sein zu wollen, Bahn gebrochen: Nur wenn ich nicht festgehalten werde, kann ich glücklich sein.
Die bunte Regenjacke der weinenden Frau ist schon hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden. In dem Moment schätze ich mich sehr glücklich und gehe in das Haus zurück.
7
Ca mus sagt, es gibt im Leben eine große Anzahl kleiner Gefühle und eine kleine Anzahl großer Gefühle. Pano war ein großes Gefühl. Vielleicht muss ich ihm dankbar dafür sein, dass er nicht mit mir zusammengeblieben ist. Ich überwand die Trauer mit der Zeit und lebte das Leben in Berlin weiter.
In dieser Zeit kehrte mein Bekannter aus Mexiko zurück, und ich musste aus der Wohnung raus. Ich fand durch Zufall wieder in der Schlüterstraße eine Ein-Zimmer-Wohnung in einem Gartenhaus, packte meine Taschen und zog ein.
Das Abitur rückte näher. Ich lernte für Biologie und schleuderte meine Bücher durch die Wohnung, weil ich es nie schaffte, das empirische Experiment am Pawlowschen Hund so zu erklären, dass ich es verstand. Ich spazierte zum Teufelsberg, um dort geschichtliche Ereignisse auswendig zu lernen, und genoss dabei den Sonnenuntergang hinter West-Berlin. Kurz vor dem Abitur sollte jeder im »Politische Weltkunde«-Unterricht erläutern, wie seine Pläne fürs Studium aussahen. Als ich an der Reihe war, kam mir die Lehrerin zuvor und meinte: »Louise, ob aus Ihnen jemals was wird, weiß keiner.«
Und dann kam das Abitur. Es war wie ein Spuk, und ich erinnere nur, dass ich in der mündlichen Biologieprüfung beim
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