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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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dennoch lag an seinem Stamm ein meterhoher Laubhaufen. Kreischend spielten wir im Laub. Das liegt über zwanzig Jahre zurück.

3
    We r konnte ahnen, dass mit meinem ersten Schultag ein erbitterter Kampf begann, um mich irgendwie durch ein System zu pressen, in welches ich, wie auch immer gedreht, nicht hineinpassen wollte. Es dauerte keine drei Schulwochen, bis klarwurde, dass an mir etwas nicht stimmte. Ich hatte einen Defekt. Aus dem Nichts kam eine Krankheit, die bis zu meinem siebten Lebensjahr völlig unerkannt geblieben war. Nun aber sollte ich Rechnen und Schreiben lernen, und da stellte sich heraus, dass ich weder addieren noch subtrahieren oder laut vorlesen konnte. Ein Jahr ging das so. Ich lernte nichts. Alles, was ich niederschrieb, war spiegelverkehrt oder unleserlich – bald weigerte sich meine Lehrerin, die Schulhefte zu korrigieren.
    Als ich acht war, begann man mich zu untersuchen. Und das Faszinierende war: Je genauer man mich untersuchte, desto weniger an mir stimmte. Ich wurde immer falscher.
    Ich konnte keine zwei Worte zusammenhängend lesen, und so musste ich mit meiner Mutter laut lesen üben. Fünf Minuten auf dem linken, fünf Minuten auf dem rechten Auge und fünf Minuten mit beiden. Meine Mutter stellte die Eieruhr. Fünf Minuten, das waren für mich damals wie fünf Stunden am Bahnsteig auf den Zug warten. Die Zeit nahm kein Ende. Nach fünfzehn Minuten Lesen war ich völlig erschöpft und bekam als Belohnung einen Anspitzer, einen Stift oder einen Schlumpf.
    Mit dem Rechnen ging es mir ähnlich. Ich konnte drei und fünf nur mit den Fingern zusammenzählen. Da mir das Fingerrechnen von der Lehrerin verboten wurde, übte ich mich im Fingerdrücken. Das heißt, dass ich meine Hände unter dem Tisch zu Fäusten ballte und bei links anfing, dreimal zu drücken: Daumen, Zeige-, Mittelfinger. Plus fünfmal drücken: Ringfinger, kleiner Finger, Daumen der rechten Hand, Zeige- und Mittelfinger. Ich merkte mir den Mittelfinger und begann wieder von vorne zu zählen und kam so auf acht.
    Eines meiner Probleme war, dass jede Zahl in meiner Vorstellung eine Farbe hat; die Null ist farblos, die Eins ist grau, die Zwei ist weiß, die Drei ist grün, die Vier ist pink, die Fünf ist gelb, die Sechs ist grün, die Sieben ist schwarz, die Acht ist braun, die Neun ist blau. Ich hege auch Sympathien und Aversionen gegenüber bestimmten Zahlen. Die schwarze Sieben habe ich immer gehasst, die Neun hingegen ist mir sympathisch. Mit der Sieben assoziiere ich auch Katzen, schwarze Katzen. Mit der Neun hingegen Wasser. Ich rechnete also nicht sieben plus neun, sondern sieben schwarze Katzen plus eine blaue Neun, die bis zur Hüfte im Wasser steht, ergeben eine farblose Eins mit acht braunen Pferden, die auf einer Weide stehen und grasen. Das nennt sich nonverbales Denken in Bildern. Pro Sekunde spielt das Gehirn in diesem Fall zweiunddreißig Bilder ab – kontinuierlich. In derselben Sekunde produziert ein verbal denkender Mensch zwei bis fünf Worte.
    Denken in Bildern ist 400- bis 2000mal schneller als verbales Denken. Es ist vielfältiger, tiefer und umfassender. Verbales Denken verläuft dagegen linear und strukturiert.
    Lese ich einen Text, dann wächst das Bild mit jedem weiteren Wort, jedem weiteren Gedanken, der dem Grundgedanken angefügt wird.
    Zum Beispiel: »Das braune Pferd sprang über die Steinmauer und rannte durch die Weide.«
    Würde ich den Satz so beschreiben, wie ich ihn mir bildlich vorstelle, bräuchte ich dafür etwa eine halbe Seite.
    »An einem sonnigen Tag, an dem die Schäfchenwolken im Himmel gen Westen ziehen, hebt ein grasendes braunes Pferd mit schwarzer Mähne und glänzendem Schweif seinen Kopf und erblickt einen vorbeifahrenden roten Traktor. Es richtet sich auf, hebt den Schweif an, schnaubt und fängt in großen Schritten an zu traben. Der Traktor kommt näher. Es rattert, und der Anhänger, den er zieht, scheppert. Das Pferd galoppiert an und nähert sich einer Steinmauer, die am Rand der Wiese steht. Die Trockenmauer ist bewachsen mit Moos und Flechten. Unkraut, Brombeeren und anderes Gestrüpp haben sich über die Jahre an ihr hochgerankt. Auf einem der obersten Steine sonnt sich eine Echse. Blitzschnell verschwindet sie in den dunklen Ritzen, als das Pferd heranprescht, zum Sprung ansetzt und das Hindernis in hohem Bogen überwindet. Auf der anderen Seite galoppiert es sich aus, fällt wieder schnaubend in Trab, dreht noch wild blickend ein paar Kreise, prüft die

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