Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
Sonnenaufgang auf dem Berg. Nimmt man um halb acht im Dorf die erste Bergbahn zur Corviglia hinauf, erlebt man das imposante Schauspiel, wie sich das weißgoldene Licht allmählich über die kohlschwarzen Steinkanten ergießt. Dann verwandelt sich innerhalb von Minuten die stumpfe Schneedecke in eine millionenfach funkelnde Oberfläche. Das Bergmassiv wird durch Licht und Schatten plastisch und lebendig. Bergdohlen kreisen in der Luft, Wind fegt pulvrigen Schnee umher. Der Himmel nimmt dieses unbeschreiblich tiefe Tintenblau an und spannt sich makellos über die Bergkulisse. Und das alles geschieht geräuschlos.
Egal ob Schneesturm, Blindsicht oder Nebel – wir waren immer auf der Piste. Wir haben uns auf jeder Sesselliftfahrt nach Frostbeulen untersucht und immer noch eine Schicht Kälteschutzcreme aufgetragen. Mit Schönwetter-Skifahrern konnten wir nichts anfangen: Gerade wenn sie aus Deutschland kamen, verachteten wir sie. Schönwetter-Fahrer waren entweder Frauen, die ihre Haarpracht so auftoupierten, dass sie keine Mütze brauchten, auf der Toilette immer den Lippenstift nachziehen mussten, weiße Skischuhe trugen und eine Parfümwolke hinter sich herzogen. Die Männer fielen auf durch ihre krampfhaft erholten Gesichter, über die sich weiße Schlieren von nicht verstrichener Sonnencreme zogen. Ihre verspiegelten Sonnenbrillen setzten sie nur ungern ab, und ihre Skiausrüstung war besetzt von großen, aufgenähten Abzeichen des entsprechenden Herstellers.
Im Sommer wanderte ich schon sechsjährig wie ein Bergbub mit zum Maiensäss – dem Sommersitz der Bauern –, lief und lief neben dem pfeiferauchenden Thore her und trug meinen Rucksack und die Hundeleine mit unermesslichem Stolz. Thore war unser Bergführer, ein großer, wohlbeleibter Mann mit dicken Händen und vom Tabak verfärbten Fingerkuppen. Er hatte einen schweren, gleichmäßigen Gang und immer zu Schlitzen verengte Augen. Er sprach Italienisch, Rätoromanisch und wie alle Bündner Schweizerdeutsch mit breitem Akzent. Er rauchte Pfeife und hatte die Gewohnheit, fortwährend an dem Mundstück zu nuckeln, während er erzählte. Er hüllte sich dann in den Rauch, nuschelte ein bisschen und grummelte wie ein Brummbär. Auf unseren Tageswanderungen ging ich immer ganz vorne an seiner Seite. Dort lief auch Sira, eine English-Setter-Hündin, die ihm aufs Wort gehorchte und auf jeden kleinen Fingerzeig von ihm reagierte. Thore konnte aus dem Augenwinkel Steinpilze oder Edelweißblüten entdecken. Er erspähte die Steinböcke in den Felsritzen mit bloßem Auge, er trug ein handgeschmiedetes Jagdmesser bei sich, mit dem er die Haut seines Hirschsalsizes abschälte oder lange Stecken zum Grillen anspitzte. Thore machte uns die Schweizer Bergwelt zugänglich und bot sie uns als das Wunderland dar, das sie noch immer ist.
Hier leben Gämsen und Murmeltiere, Bergbäche stürzen von halsbrecherisch steilen Hängen herab, die Bergseen sind klar und kalt, milchig weiß oder moosig grün.
Wir wanderten zu Hütten, wo es frische Milch für Mensch und Tier gab, Käse vom Laib und Brot und Wurst aus der Hand. Wir rasteten an sprudelnden Bächen mitten in bunten Bergblumenwiesen, wir kraxelten angeseilt über Gletscher und durchstreiften abgelegene Dörfer.
Nach diesen Wochen in den Bergen fiel mir der Abschied immer schwer. Der Tag, an dem mein Vater das Auto belud und meine Mutter Brote strich und Provianttüten packte, war meist ein strahlend schöner Tag. Dann saß ich oft noch in meinem Zimmer im ersten Stock auf dem Fensterbrett des Doppelkastenfensters und schaute zu den Bergen hinüber. Sie bildeten einen Schutzraum, in dem ich mich geborgen fühlte.
Aus der scheinbaren Grenzenlosigkeit der Bergwelt führte uns der Julierpass wieder hinab ins Tal. In Zürich war die Luft nicht mehr so kristallin und rein, in Zürich wurden die Haare wieder wellig, die Haut fühlte sich nicht mehr so straff und trocken an, und der gesunde Appetit ging verloren. Nach dem Skifahren und Bergsteigen war ich hier unten höchstens noch eine schlechte Schülerin.
6
Di e Heilbehandlung begann mit dem Besuch einer Logopädin, einer gewissen Frau Rössler – denn ich lispelte. Ich glaube, sie hieß in Wirklichkeit Müller und legte sich nur aus Schikane den Namen Rössler mit Doppel-s zu. Wenn ich auf dem rechteckigen Edelstahlklingelschild mit dem eingestanzten Namen den Klingelknopf drückte, öffnete sie die weiße Tür mit einem Lächeln. Es gibt unterschiedliche Formen
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