Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
sind es Dutzend Fältchen, die dann wieder verschwinden. Er hat einen dichten roten, kurzen Bart und blondes, welliges Haar mit einem rötlichen Stich.
Auf seinem Handrücken treten, als er mir den Koffer abnimmt, die Adern hervor. Er öffnet die Kofferraumtür, versucht das Gepäck hochzuheben, zieht und zieht am Henkel. »Brauchst du Hilfe?«, frage ich mit gerunzelter Stirn. Francis lacht und hievt den Koffer mit einer kräftigen Bewegung seiner Arme in den dunkelgrünen Chevi.
Erleichtert öffne ich die schwere Beifahrertür und klettere auf den Sitz. Von Müdigkeit keine Spur mehr.
Francis startet den Motor und streicht sich, bevor er den Rückwärtsgang einlegt, mit seinen groben großen Händen übers Haar.
Francis kommt, wie er selbst sagt, aus dem »bitterkalten, nassen und kargen« Norden Irlands. Ich kann ihn mir als Kind sehr gut vorstellen. Er wird als Junge im Regen über hügelige Wiesen gerannt sein. Er wird die Milchkanne geschleppt haben, mit nackten Füßen auf dem Rücken eines Ponys durch das Moor geritten sein und, die Beine baumelnd, auf einem Zaun gesessen und selbstgepflückte Äpfel gegessen haben.
Dieser Junge ist er heute auch mit Anfang fünfzig noch, nur die Haut in seinem Gesicht ist gealtert. Auf einer festgetrampelten Rennstrecke irgendwo auf dem irischen Land ritt er, keine zwölf, Ponyrennen. Mit Pferden konnte er einfach besser umgehen als mit Eseln, sagt er.
Francis’ Familie zog später nach London zu einer Tante des Vaters, die ihrem Neffen Arbeit in einem Stahlwerk verschafft hatte. Francis verbrachte nach wie vor jedes Wochenende auf einer Rennstrecke. Er wollte eigentlich Jockey werden. Doch da er nicht so klein und schmächtig blieb, sondern mit fünfzehn in die Höhe schoss, entdeckte er das Kutschefahren. Als jüngster Knecht bekam er ein Jahr später in den königlichen Ställen seine erste Stelle. Er musste die störrischsten Pferde reiten. Er putzte die prunkvollen Zaumzeuge und zwängte sich für Spazierfahrten mit einem Gespann von acht Pferden quer durch London in steife, hundert Jahre alte Hosen, in Rock und Stiefel. Er saß auf Kutschböcken, die so hoch über der Erde lagen wie das erste Geschoss eines Reihenhauses. Doch Kutschefahren ist für Francis sowieso ein Kinderspiel, egal wie viele Pferde er angespannt hat. Je mehr Pferde, desto mehr Spaß.
Noch nie habe ich Francis schlecht gelaunt erlebt, er kann selbst noch lachen, wenn er sich den Finger bricht. Er singt Countrysongs wie Blue Canadian Rockies von Gene Autry bis zu The Taker von Waylon Jennings auswendig, und er erzählt Pferdegeschichten. Zum Beispiel kann er die grausigsten Kutschunfälle schildern. Darin kommen Uferböschungen von reißenden Flüssen, tote Pferde und querschnittsgelähmte Fahrer vor, und er gibt sie so nüchtern wieder wie die Rezeptur von Yorkshire-Pudding. Bis nach Polen ist er gereist, um weiße Lipizzaner für den Stall von Mr. Cummings einzukaufen. Mr. Cummings, unser Nachbar in Vermont und passionierter Kutschenfahrer, hat Francis vor Jahrzehnten in London entdeckt und ihn nach Amerika geholt. Seitdem lebt er mit seiner Frau und einem Sohn in Hartland, und doch ist er bis heute der irischste Ire außerhalb Irlands geblieben.
Als wir den Flughafen hinter uns gelassen haben und uns durch die Rushhour bis zum Stadtrand von Boston durchgeschlängelt haben, stellt er die Frage, die alle Vermonter einem Fremden stellen: »Wie lange bleibst du?«
»Für immer«, sage ich und lache. Wir wissen beide, dass es ein Witz ist.
Mit 75 Meilen pro Stunde schleicht der gekühlte Chevi Richtung Norden. Während der drei Stunden Fahrt nach Birch Hill Farm nähern wir uns den »Grünen Bergen«. Sie bilden das Rückgrat des kleinen Staates und verlaufen von der kanadischen Grenze im westlichen Vermont bis nach Connecticut. Auf 400 Millionen Jahre schätzt man das Alter des Gesteins ein, welches die Hügelkette bildet. Über die Zeit wurde sie durch Wind, Wasser und Eis abgeschliffen und erhielt so ihre typische weiche Silhouette.
Der Himmel erscheint unendlich weit und groß, der Highway endlos lang und sanft. Ich kann nicht anders: dafür liebe ich Amerika. Dafür kehre ich immer wieder zurück an diesen Ort, nach Vermont, das mir – zumindest auf Zeit – ein Leben mit und in der Natur ermöglicht. Hier lebe ich mich selbst, und diese Erkenntnis hat mich unter dem tiefblauen endlosen Himmel auch oft traurig gestimmt. Anscheinend lebe ich mich woanders nicht oder kann mich
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