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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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nicht leben.
    Vermont ist für mich ein Ort der Besinnung. Für Francis ist es Heimat geworden. Ich beneide ihn darum.

    Nach zwei Stunden verlassen wir den Highway. Die untergehende Sonne färbt den westlichen Himmel rot. Francis biegt rechts ab. Er hält an einer Kreuzung und biegt links auf die Route 12 ab. Die Route 12 schlängelt sich über eine kleine Schlucht, die »Pippin Gorge«, vorbei an dem Souvenirshop, in dem man Tassen, Hüte und T-Shirts mit dem Namen der Schlucht erwerben kann. Wir passieren die Orte Springfield und Weathersfield, eine Tankstelle, eine weitere Tankstelle und noch eine Tankstelle und fahren schließlich mit 25 Meilen pro Stunde über die Hauptstraße durch Hartland durch. Von hier führt uns die Route 4 Richtung Birch Hill. Uns umgibt das Connecticut Valley. Das ist das Tal, in dem der Connecticut-Fluss fließt. Es ist umringt von Hügeln, und auf einem von ihnen sitzt das Haupthaus der Farm. Wir biegen auf die Rick Road ab, die steil bergauf geht.

    Mittlerweile ist es Abend geworden. Vor der kleinen, schwach erleuchteten Garage nimmt unsere Fahrt ein Ende. So gerne hätte ich Francis noch zum Essen eingeladen, doch ich weiß, dass er – im Gegensatz zu mir – erwartet wird.
    Wir verabschieden uns mit Handschlag, und ich nehme den Koffer entgegen.
    Ich schaue mich noch mal um. Die Autotür schlägt zu, und der Wagen wendet auf dem Kies. Ich sehe den Rücklichtern nach.

5
    Ei n Grundstein meiner Erinnerung an die Kindheit sind die Sommer und Winter im Engadin. In der Bergwelt fühlte ich mich heimisch und wohl, und das, obschon sich rechts und links die Granitwände türmen und im Sommer die Gebirge wie versteinerte Elefantenfüße auf dem Talboden stehen. Zwei Stunden Autofahrt von Zürich, und ich war in einer anderen Schweiz. Sie ist geprägt von der reinen Luft, dem kristallinen Licht und der Ursprünglichkeit der Bündner.
    Leider verfügt der Kurdirektor des Engadins über einen unerschöpflichen Werbe- und Bauetat. Der Massentourismus ist seit den Neunzigern von Davos und Arosa auch ins Engadin gespült worden. Für manche bietet St. Moritz Après-Ski, schillerndes Clubleben und schäumenden Luxus. Für dieses sporteifrige Volk werden Pferderennen im Schnee veranstaltet, Gourmetfestivals organisiert und Kaviar herangekarrt. Diesen öden Vergnügungsnomaden ist eben egal, wo auf der Welt sie sich befinden – Hauptsache, Krach.
    Hinter dem St. Moritzersee, wo wir in den Ferienwochen wohnten, haben wir winters und sommers nichts von dem Krach mitbekommen. Ich legte noch nie Wert auf Nachtleben in 1800 Metern Höhe, und meine Eltern hielten sich raus aus dem gesellschaftlichen Zirkus, den die Züricher von Dezember bis Februar ins Engadin verlagerten.
    Im Winter ging es mit meinem Vater und dem seit Urzeiten gleichen Skilehrer um acht Uhr auf die Piste. Bis mittags wurde Ski gefahren. Dann aßen wir gemeinsam auf einer der Hütten, fuhren weiter bis 15 Uhr und gingen ab ins Tal. Zu Hause wartete meine Mutter mit Schwarztee und Kuchen aus einer Konditorei in Pontresina. Während dann die Sonne allmählich zwischen Piz Nair und Piz Corvatsch versank, saßen wir auf unseren Zimmern, in denen wir zu zweit schliefen, lasen mitgebrachte Bücher, lagen bäuchlings auf dem Flur, bastelten mit Bausteinen, malten oder spielten Karten vor dem Kamin. Einen Fernseher gab es nicht in dem Haus.
    Stattdessen gruben wir jedes Jahr aufs Neue in der gleichen Hörspiel-Kassettenkiste. In dieser Kiste befand sich unter anderen eine Pinocchio-Kassette. Ich hörte diese so oft, dass ich irgendwann die ganze Geschichte auswendig miterzählen konnte. Und ich musste immer an den gleichen Stellen schallend lachen.
    Das Engadin ist für mich ein Ort der Konzentration und der Kreativität. Ich glaube, das liegt an der Prägung dieser langen Nachmittage und Sonntage (sonntags durften wir nicht auf die Piste), an denen ich meiner Phantasie freien Lauf lassen konnte.
    Und immer kochte meine Mutter aufwendig und in Engadiner Tradition. Abends war das Haus erfüllt vom Geruch des brennenden Feuers im Kamin, von Ragouts mit Polenta, überbackenen Spätzle, Steinpilzsaucen oder Rahmgeschnetzeltem.
    Im Schoß der schroffen Gebirge, des überall aufblitzenden Granits, umgeben von knorrigen Fichten, Lärchen, den vom Wetter gebeutelten Tannen, fühlte ich die Zugehörigkeit, die mir in Zürich in jeder Hinsicht fehlte. Die Unmittelbarkeit der Natur imponierte mir. Nichts ist vergleichbar mit dem

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