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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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des Logopäden-Lächelns: Manche Logopäden lächeln aus Berufszwecken mitleidig. Denn ihnen tun all die von Schwächen befallenen Kinder leid. Andere Logopäden lächeln diabolisch, denn sie sehen ihre Aufgabe darin, den Kindern die Schwächen mit allen erdenklichen Therapien und Methoden gänzlich auszutreiben. Wiederum andere lächeln analytisch. Sie können während des Lächelns feststellen, inwieweit ihre Therapiemethode schon Erfolge erzielt hat.
    Bei Frau Rössler musste ich einmal in der Woche, immer montags nach der Schule, ein Papierbällchen durch ein Labyrinth aus Pappwänden pusten, sehr viele Worte mit dem Buchstaben s nachsprechen und wiederholen. Einmal sollte ich etwas vorpfeifen. Und ich erinnere, danach mit dem Pfeifen aufgehört zu haben.

    Im März 1991, ich war in der zweiten Klasse, begann die nächste Therapie mit einem zweistündigen Orientierungsgespräch. Bei Frau Godenschweig, die auch Rechenschwächen behandelte, machte ich laut Therapie-Bericht ein Augen-Koordinierungstraining. Ich kann leider nicht mehr beschreiben, worum es sich dabei handelte. Auf Frau Godenschweig wirkte ich fröhlich und offen trotz meiner Schulprobleme. Wenn sie mich auf das Rechnen ansprach, antwortete ich: »Ich brauch ein bisschen lang.«
    Sie versprach mir, mich so hinzukriegen, dass es schneller ging.
    Ich wies darauf hin, dass ich auch weniger Fehler machen wollte. Fehler mochte ich nicht, weil sie rot eingekreist wurden.
    Es wurde eine Sitzung pro Woche à fünfzig Minuten vereinbart. Und so wurde ich wöchentlich vor einem Stadthaus in Zürich abgesetzt, das einem senkrecht aufgestellten Schuhkarton glich. Frau Godenschweig war hager, klein und ehemalige Schweizer Meisterin in der Leichtathletik. Ihr Lächeln war streng und diabolisch. Sie besaß nur zwei weite Kleidungsstücke, die sie abwechselnd über schwarzen Leggins trug. Dazu offene Hausschuhe. Durch den klaustrophobisch engen Flur, an dessen rechter Wand Mantel über Mantel über Jacke über Schal über Poncho hing, zwängte ich mich an zwei Katzen vorbei, eine enge, gewundene Treppe hinauf. Auf dem düsteren Dachboden, in dem nur Frau Godenschweig aufrecht stehen konnte, roch es stets leicht muffig. Der Sauerstoff war immer knapp. Alles, was an Spielsachen herumlag, war von hundert Kinderhänden abgegrabbelt und angefasst. Wir setzten uns an dem einzigen Tisch einander gegenüber, und die stechenden Blicke von Frau Godenschweig wichen keinen Augenblick mehr von mir ab. Immer dieses Beobachten und ihr Schweigen, während ich an einer Aufgabe saß. Je länger ich brauchte, umso höher wuchs die Wand der Stille.
    Die Therapie zeigte keinerlei Niederschlag auf meine messbaren Schulleistungen. Ich wusste noch immer nicht, ob 43 kleiner oder größer ist als 46. Wenn Rechnungen über 100 führten, verwechselte ich 102 mit 200.
    In den schriftlichen Prüfungen sanken meine Noten ab. Weder wollten meine Eltern, dass ich die zweite Klasse wiederholen musste, noch wollten die Lehrer, dass ich den Notendurchschnitt der ganzen Klasse herabdrückte. Die Folge war: Man strich das Unwichtige aus meinem Stundenplan und konzentrierte sich auf das Wichtige. Statt am geliebten Kunstunterricht in der Schule teilzunehmen, musste ich nun jede Woche neunzig Minuten zu Frau Godenschweig.
    Schon seit Beginn der zweiten Klasse wurde ich in Mathematik nicht mehr benotet, da dies den Aufbau meines Selbstvertrauens in Bezug aufs Rechnen empfindlich stören und die Wirkung der therapeutischen Arbeit ein Stück weit zunichtemachen würde. Alle in meiner Klasse fanden es ungerecht, dass ich Prüfungen ohne Noten schreiben durfte, und alle fragten, warum.
    Ich wusste es selbst nicht so genau, saß nur weiter in der düsteren Stube, umgeben von den Katzen, vor mir die Logopädin mit rot gefärbten Haaren und einer riesigen Holzkette auf der faltigen Brust, und musste rechnen.
    Zur Rechnung 7–3 führte ich folgende unlogische Handlung aus: Ich legte sieben Spielfiguren hin und erklärte: Sieben Kinder haben drei Kinder eingeladen, dann sind sie weggegangen. Dann sind es noch vier gewesen. Ich addierte also und zog dann von zehn wieder sieben ab und kam so auf vier.
    ?
    Das haute nicht hin.
    Die Logopädin fragte nach und verlangte für die Subtraktion ein weiteres Beispiel. Ich erklärte: Es treffen sich zwei Leute, dazu kann man auch 1 + 1 = 2 sagen. Dann gehen sie wieder auseinander, jetzt heißt die Rechnung 1 × 1, nein, ich war verwirrt, 1–1, nein, 1–0, nein,

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