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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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einem Jahr ließ ich mich ein bisschen fallen. Doch immer wieder holte mich der Ehrgeiz ein, aktiv zu bleiben, um meinen Körper dazu zu zwingen, Nährstoffe und Kalorien zu verbrennen und so mein Gewicht zu halten oder wenn möglich noch zu verringern. Ich unternahm Spaziergänge, ich schlich im Morgendunst heimlich aus der Station, um joggen zu gehen. Ich brachte mir, da ich am Wochenende noch nach Hause fuhr, sogar ein Springseil mit und hopste vor der Dusche in meinem Zimmer auf und ab, bis sich eines Morgens beim Frühstück meine Nachbarin bei mir erkundigte: »Sag mal, was machst du da eigentlich um sechs in der Früh?« Unsicher schaute ich umher, ob jemand mitgehört hatte, und mit einem verzweifelten Blick versuchte ich ihr verständlich zu machen, dass dies doch unbedingt geheim gehalten werden musste! Zu spät, man hatte mitgehört. Renate trat heran und wollte ebenfalls wissen, was das für ein Geräusch sei, das ich verursachte. Ertappt. Sie nahm mir nach dem Frühstück die Laufschuhe und das Springseil ab. Bald sah ich ein, dass dieses Versteckspiel keinen Sinn machte. Allmählich fügte ich mich den Regeln und konzentrierte mich auf das Malen.
    In der Klinik war es das erste Mal, dass ich den ganzen Tag, ohne dafür benotet oder dabei begutachtet zu werden, malen und zeichnen konnte. Endlich durfte ich das tun, was ich konnte. Und ich malte wie verrückt. Anfangs zerbrach ich mir den Kopf darüber, was um Himmels willen ich malen sollte: einen Leuchtturm, ein Meer, ein Haus, einen Straßenzug. Ich machte lauter Skizzen und verwarf alle.
    »Das war die letzte Skizze«, sagte Katharina eines Morgens. Ich sah sie entgeistert an. Ihre roten Haare hielt sie mit einem zum Haarband gewickelten dunkelgrünen Seidenschal zurück.
    »Aber sie sind alle nicht gut, keine ist so, wie ich mir das Bild vorstelle!«
    »Mach es trotzdem zu Ende«, beharrte sie. »Es muss ja nicht perfekt sein. So lassen kannst du es auch nicht.«
    Widerwillig setzte ich mich an die erste der vielen Skizzen. Bei der Arbeit an dem Bild wurde mir klar, dass ich eigentlich nie etwas vollendet hatte in meinem Leben. Ich hatte mich selbst verworfen, da ich immer mangelhaft gewesen war. In einer perfekten Welt, einer perfekten Gesellschaft, einem perfekten Lebenslauf musste alles verworfen werden, was nicht perfekt war. Ich begann, meine Zeichnungen zu Bildern auszubauen, malte die Hände zu dünn, die Lippen zu groß, die Haare zu dick, gab der Haut einen grünen Stich, der Blume eckige Blätter, und es gefiel mir so.
    Wir kneteten auch mit Ton. Damit sollten wir unter anderem einmal eine Gestalt zum Thema »Erde und Boden« formen. Ich arbeitete tagelang an einer filigranen Figur mit Modelmaßen. Um sie feucht zu halten, wickelte ich sie nachts in nasse Tücher und schälte sie behutsam wieder aus dem Leinen, um die zerbrechlichen Glieder nachzuarbeiten. Am dritten Morgen fiel mir die gefährlich spröde gewordene Figur bei der Arbeit aus der Hand und verlor beim Aufprall auf den Boden Arme und Beine. Alles, was von ihr übrig blieb, war der Torso. Ich nahm einen frischen, dicken Klumpen Ton und begann die zweite Frau zu formen. Ich gab ihr breite Schultern, einen starken Brustkorb, einen runden Po und einen dicken Bauch. Ihre Füße verschmolzen in einem festen Sockel, ihre Arme verschweißte ich mit den Hüften.
    Sie blieb heil.
    Ich klebte Collagen und ging manchmal abends noch ins Atelier, um bis in die Nacht an meinen Bildern weiterzuarbeiten.
    Ich mochte meine Bilder. Ich liebte sie. Ich war stolz auf meine Phantasie und badete in den bunten, knalligen Farben. Meine ganze Welt bestand ja ausschließlich aus kranken Gedanken, aus Zwängen und der Sehnsucht nach Selbstzerstörung. Zu malen zwang meinen Perfektionismus in die Knie, und die Bilder führten mir gnadenlos meine noch vorhandenen schönen Phantasien vor Augen. Da einem die Magersucht eine zweite Persönlichkeit aufzwingt, war dies der einzige Weg, mich selbst wiederzuerkennen. Ich sah meine Handschrift in dem Gemalten und konnte nachvollziehen, dass diese Bilder von einer Person stammten, die in mir drinnen schlummerte und auf dem Weg in den Wahn immerhin noch nicht ganz verlorengegangen war.

    Einmal die Woche, am Dienstag, musste ich selbständig zum Wiegen erscheinen: morgens nüchtern und in Unterwäsche auf der Stationswaage. In den Nächten davor schlief ich kaum, und Alpträume jagten mich.
    Ich renne immer geradeaus, Panik in meinem Herzen, gefangen oder eingeholt

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