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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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Haufen. Am Tisch aßen alle vor sich hin. Die eine rührte ihren Teller nicht an, die andere starrte ihrem Gegenüber unentwegt aufs Essen, und das Verlangen, alles zu verschlingen, machte ihren Blick teuflisch und unheimlich.
    Ich fühlte mich dreckig, verschmutzt. Ich wollte diese Zeit nicht erleben, wollte sie aus meinem Leben streichen. Ich schämte mich, hier zu sein.
    Dann langsam bauten sich meine Widerstände ab, und ich wurde Teil der gescheiterten, bleichen, gefühlslosen, dicken und dünnen Existenzen von Pünt Nord.

    »Morgen, Alexandra«, grüßte ich eine gleichaltrige Insassin beim Frühstück. Ich goss Kräutertee auf. Sie schüttete mit zitternder Hand warme Milch in eine Tasse. Ich reichte ihr drei der hellgrünen Servietten, da die Hälfte danebengegangen war. Sie lächelte schief. Sie war blass, fast weiß im Gesicht – wie alle hier. Mit aufgerissenen Augen, als versuche sie in völliger Dunkelheit die Pfütze aufzuwischen, suchte sie die verschüttete Milch.
    »Geht es?«, fragte ich nach.
    »Ich nehme diese Medis«, sagte sie und schob den vollgesaugten, grünen Klumpen durch die Milch. »Die Nebenwirkung ist, dass meine Muskeln teilweise gelähmt sind und ich so zittere.« Sie stierte mich an. »Und ich bekomme davon einen so starren Blick.«
    »Das tut mir leid.«
    »Ich muss die eben nehmen. Nimmst du Medikamente?«
    »Nein.«
    »Ach so, du bist ja neu. Das kommt dann noch.«
    Alexandra bewegte sich wie ein Roboter bei allem, was sie tat. Sie sprach auch wie ein Roboter. Manchmal ließ sie Teller fallen, weil sie ihre Muskeln nicht unter Kontrolle hatte, und sie stotterte beim Sprechen. In ihrem bleichen Gesicht prangten wenige, feuerrote Pickel, und ihre blauen Augen hatten etwas Eisiges, Gefühlloses. Die blonden Locken wirkten immer ungewaschen und hingen meist lose über ihre gekrümmten Schultern. Ihre Unterarme wurden mindestens einmal die Woche neu verbunden.
    Als ich sie eines weiteren Morgens auf ihren dicken Verband ansprach, meinte sie nur: »Das hat die Notfallstation verbunden. Ich habe mich heute Nacht wieder geschnitten. Die Medis machen das.«
    Ich trank meinen Tee, während die anderen eintrafen und sich die Brote mit Butter und Marmelade beschmierten. Da kam Anna mit zerzausten Haaren und setzte sich zu mir. Sie fragte, wie ich geschlafen hätte und ob ich gleich zum Morgentreff ginge. Es war kurz vor acht, ich trank meinen Tee aus, und wir gingen zusammen ins Atelier.
    Das Atelier war ein ebenerdiger, lichtdurchfluteter Raum, in dem vormittags gemalt oder getöpfert wurde. Man konnte durch Terrassentüren auf einen mit Steinplatten ausgelegten Vorplatz treten, der in eine Wiese überging.
    Bei dieser Zusammenkunft aller im Atelier tauschte man sich aus. An den jeweils verbundenen Unterarmen wurde deutlich, wer sich in der Nacht die Adern aufgeschlitzt hatte. Wer nicht anwesend war, hatte verschlafen oder lag auf der Notfallstation. Wir besprachen, wie sich jeder fühlte und ob etwas Besonderes anstand. Manche blieben im Anschluss im Atelier, um zu malen, gingen in eine Werkstatt auf dem Gelände, in eine Tanz- und Bewegungsgruppe oder verschwanden in ihren Zimmern, um weiterzuschlafen. Ich blieb immer im Atelier, weil mir Tanz und Bewegung nicht erlaubt war.
    Das Malen war eine Form der Ergotherapie, und die Therapeutin, die für unsere Gruppe zuständig war, hieß Katharina. Ich mochte sie auf Anhieb. Sie trug grünen Lidschatten und hatte feuerrotes, dickes Haar. Auch Anna verbrachte die Vormittage im Atelier. Charlotte und Silvia nahmen an solchen Dingen nicht teil – sie schliefen, rauchten oder saßen beim Arzt. Nach all der Zeit, in der ich mich zu niemandem und nichts zugehörig gefühlt hatte, in der ich, egal, wo ich hinkam, fremd gewesen war, fand ich hier eine Gruppe von Menschen, die mich bedingungslos aufnahm.
    Wir waren alle gleich schlecht dran. Niemand scherte sich um den anderen. Jeder war auf seine Art daran gescheitert, sich durchs Leben zu schlagen.
    Ich lernte, dass mir die Menschen nicht gleich Böses wollten. Hier war ich nicht mehr nur umgeben von Menschen, die mich ändern wollten, sondern von Opfern. Wir wurden eine verschworene Gemeinschaft. Unausgesprochen teilten wir das Schicksal, uns außerhalb der Norm, abseits von gesellschaftlichen Zwängen zu befinden. Wir lebten auf einem kleinen Planeten in einem Raum ohne Zeit und ohne Druck.
    Ich fühlte mich besser als »draußen«, ruhiger im Kopf, der Kampf wurde weniger. Das erste Mal seit

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