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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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Anna und Christoph ins Gespräch.
    »Sind halt alle etwas durchgeknallt, aber du gewöhnst dich«, sagte Anna und lachte. »Ist wahrscheinlich jetzt schwer für dich.«
    Ich zuckte mit den Schultern.
    »Komm, wir rauchen noch eine. Rauchst du?«, fragte sie.
    »Nein«, sagte ich. Aber ich war froh, Freunde gefunden zu haben und aufstehen zu können. Anna gefiel mir, und wir verstanden uns sofort. Als ich in die kleine Küche kam, hing Silvia über den Schweinebottichen. Mit den Händen holte sie die Reste aus den Plastikkübeln und stopfte sie in sich hinein. Ich war entsetzt. Ich tat mein Bestes, es mir nicht anmerken zu lassen. Boshaft kauend starrte sie mich an. Ich ging raus.
    Draußen auf dem mit Betonplatten ausgelegten Platz standen wir in der Abendsonne des Altweibersommers. Charlotte rauchte Kette. Auch Anna, Christoph und Silvia rauchten. Silvia war zu uns gestoßen, saß auf einem Plastikstuhl, dessen Sitzfläche unter ihrem Gewicht nachgab und starrte ins Nichts. Ich trat auf sie zu: »Silvia, es tut mir leid, dass ich dich eben so angeguckt habe, das wollte ich nicht.«
    Sie lächelte ganz leicht und schnippte mit dem Daumen die Asche von der Spitze ihrer Kippe. »Schon gut, ich mag’s halt nicht.«
    »Ich weiß. Ich mag es auch nicht, wenn man mich anstarrt.«
    »Gefällt’s dir denn hier?«, fragte sie. Sie hatte eine so zarte, hohe Stimme!
    »Ich weiß nicht. Wie lange bist du schon hier?«
    Silvia lachte, aber nicht aus dem Mund heraus, sondern durch die Nase, ein-, zweimal nur. »Lange.« Sie seufzte. »Ja. Lange. Ich komme aus Basel.«
    Ich nickte und staunte weiter darüber, wie dick sie war, ihr Körper war das krasse Gegenteil von meinem.
    In meiner ganzen Klinikzeit trug Silvia diesen immergleichen blauen Trainingsanzug und Badelatschen mit dicken, weißen Socken. In ihren Augen lag immer eine grauenhafte Trauer. Ich konnte nie wirklich hineinschauen. Wenn sie nicht in »ihrem« Plastikstuhl saß, schleifte sie sich leblos durch die weißen Flure und Gänge der Station. Ihr Atem ging schleppend und drängte sich durch die Nase und den leicht geöffneten Mund. Ihre lockigen Haare waren verfilzt und die Trainingshose an den Knien ausgebeult und bleich. Ich hatte noch nie einen so durch und durch traurigen, verwahrlosten Menschen erlebt. Auch wenn ich sie nur schwer ertragen konnte, hatte ich doch das Gefühl, ihr von meiner Lebensenergie etwas abgeben zu müssen. Von jenem ersten Abend an verstanden wir uns gut. Ich redete oft mit ihr, und ich gab ihr von meinem Essen. Sie sei früher Spitzensportlerin gewesen, erzählte sie mir einmal traurig. »Welche Sportart?«, fragte ich neugierig.
    »Schwimmen.«
    »Oh, ich schwimme für mein Leben gern. Ich liebe Wasser«, erzählte ich, »mit vier Jahren habe ich schon den Kopfsprung gemacht.« Ich lachte.
    »Ja?«
    Schweigen.
    So verliefen unsere Gespräche meistens. Nach ein paar Minuten wurde Silvia des Redens müde und schwieg einfach.
    Beim ersten Frühstück in demselben rechteckigen Speisesaal aß ich drei Löffel Fruchtjoghurt und trank eine Tasse Tee dazu. Da war das Gefühl: Warum bin ich eigentlich hier? Ich fühlte mich so »normal«, dass ich mich fast bemühte, nur ganz wenig zu essen, um der Symptomatik meiner Krankheit gerecht zu werden.
    Im ersten Morgentreff wurde ich dann allen vorgestellt. Der Tagesablauf war fortan immer der gleiche. Frühstück, dann Versammlung zum Morgentreff im Malatelier, Malen oder Tonen, um Punkt zwölf wurde zu Mittag gegessen, und der Nachmittag stand – es sei denn, man durfte turnen – zur freien Verfügung, außer donnerstags, da musste ich zu Herrn Dr. Wagner. Um 18 Uhr wurde zu Abend gegessen. Ausflüge und andere Aktivitäten der Insassen unserer Station mussten angemeldet und gestattet werden, sie gehörten aber zum Alltag dazu.
    Am Anfang dachte ich, nach einer Woche wieder nach Hause gehen zu können. Anfangs bekam ich noch Anrufe von einem Mädchen aus der Klasse, die fragte, ob es mir »schon besser« ginge. Doch irgendwann blieben die Anrufe aus.

4
    Di e ersten Tage in Littenheid fand ich grässlich. Was hatte ich hier zu suchen? Ich kam mir deplaziert vor. Hier ging es vor allem darum, wem es schlechter und am schlechtesten ging. Die Menschen hatten kein Selbstwertgefühl, niemand glaubte an sich. Der eine hatte Probleme, die der andere sogleich wieder durch einen Suizidversuch romantisch erscheinen ließ.
    Ich war umgeben von missbrauchten, ausgebooteten Menschen, saß mitten in diesem

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