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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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rausspazieren, dachte ich.
    Ich wurde zum Arzt geschickt.
    »Was werden Sie bei der nächsten Mahlzeit tun?«, fragte mich Dr. Wagner.
    »Keine Ahnung. Könnt ihr nicht mal besseres Brot einkaufen?«
    Innerhalb einer Woche sank mein Gewicht von den 44,4 auf 43 Kilo runter. Dann sank es auf 42,5 Kilo. Ich suchte Auswege aus dem System. Die Überwachung machte mich wahnsinnig. Die Kontrolle, ich drohte die Kontrolle zu verlieren. Zucker, Getreide, Brot, Milch, Wurst, Sahne, Eier, jegliche Art von Frühstücksflocken, Schokolade, Popcorn, ich untersagte mir alles Erdenkliche. Wenn ich mich im Spiegel sah, erblickte ich ein geschlechtsloses Ungeheuer, einen Greis im Körper einer Jugendlichen. Schlaff und schwach hing ich an dem Gerüst meiner Knochen. Der Büstenhalter klemmte an meinen Rippen, und ich konnte nicht barfuß gehen, weil es an den Fußknochen schmerzte.
    Inzwischen ging ich zweimal die Woche zum Doktor in ebenjenes Büro mit dem Glastisch und den Freischwingern. Die Taschentücher auf dem Tisch musterte ich immer mit Argwohn – niemals wollte ich davon Gebrauch machen. Niemals würde ich hier weinen, mir leid tun und dem Doktor das Gefühl geben, dass er endlich am richtigen Strang gezogen hatte.
    »Ist Ihnen mal aufgefallen, dass die Mode- und Psycho-Zeitschriften in Ihrem Wartezimmer alle etwa drei Jahre alt sind?«
    Er lachte, verschränkte dann seine Arme, holte tief Luft, sah mich an und sagte: »Wissen Sie, Fräulein Jacobs …« Aber bei »Fräulein Jacobs« schien er in Gedanken schon wieder ganz woanders. Mir schien, als grabe er in all den therapeutischen Regelbüchern. Durch gezieltes Fragen suchte er nach der Antwort, die ihm einen Hinweis auf den Lösungsweg gab, der auf mich passte. Dann fiel ihm ein, mich nach frühkindlichen Traumata zu fragen.
    »Nein«, sagte ich, »ich hatte eine schöne Kindheit.«
    Er versuchte mir einzureden, ich sei krank, weil ich nur in den Schoß der Mutter zurückkriechen wolle.
    »Das stimmt nicht! Ich wollte immer weg von zu Hause! Ich wäre in Argentinien geblieben und glücklich geworden! Ich bin krank, weil ich nicht mehr kämpfen möchte. Ich bin krank, weil ich nicht frei bin! Frei will ich sein.«
    »Aber Sie sind es, die sich gefangen halten.«
    » Sie sind es, die mich gefangen halten! Lassen Sie mich raus, ich schlag mich schon durch. Ich fliege nach Montana, dort habe ich meinen Platz und meine Ruhe.«
    Er lachte unterdrückt und fragte weiter, bis die Stunde vorbei war.
    Als ich aus der Therapie kam und ins Atelier ging, um noch bis mittags zu malen, kam mir Charlotte entgegen. »Und, wie war es bei Herrn Wagner?«
    »Gut. Gut.«
    »Und hast du geweint?«
    »Nein.«
    Wir lachten.
    »Ich habe heute keine Lust auf das Atelier«, seufzte Charlotte. »Wollen wir nach Wil fahren heute Nachmittag? Mit Anna?«
    Das war der Beginn unserer regelmäßigen Ausflüge nach Wil, das nächstgelegene Städtchen außerhalb unserer Mauern. Anna, Charlotte und ich stiegen dann am Bahnhof Wil aus und besuchten die Läden und das einzige Café im Ort. Charlotte erregte schon im Zug die Aufmerksamkeit der anderen Fahrgäste, indem sie laut und mit zerkratzter Stimme lustige Geschichten erzählte. Sie konnte ihre ganze Faust in den Mund stecken, sie hatte eine ausgeprägte Leidenschaft für Plüsch, Fell, Oberteile mit Leopardendruck und Glitzeranhänger. Ihr Handy trug sie Tag und Nacht bei sich, weil sie immer mit irgendwem telefonierte. Morgens sah ich sie nie vor zehn Uhr. Sie frühstückte in letzter Minute in Trainingshose und Manga-T-Shirt und verschwand daraufhin wieder auf ihrem Zimmer. Sie vereinte so ziemlich alle Krankheiten, die einen Menschen in psychiatrische Kliniken beförderten: Borderline, manische Depression, Bulimie, Fresssucht und Suizidgefahr. Eingeliefert hatte man sie mit Panikattacken. Ihre Medikamentenliste war lang und sehr aufregend. Ihre Eltern lebten in Paris.
    In Wil zogen wir die Blicke an, wir müssen gewirkt haben wie drei Zootiere auf freiem Fuß.
    Anna kaufte sich Chanel-Kosmetik für 250 Franken, Charlotte deckte sich mit Nylontops, Haargummis, Nagellack und billigen Sonnenbrillen ein, und ich kaufte Bücher. Wir stöberten durch die Esoterikabteilung im Buchladen und suchten nach Antworten. Wir kehrten ein in das Café im Ort, wo ich, rechts Charlotte und links Anna, vor meiner Teetasse saß und auf die Rücken alter, in sich zusammengesunkener, filterkaffeetrinkender Damen starrte, die aus dem nahe gelegenen Altenheim stammen

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