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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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mussten. Und dann sah ich den Kuchen in der brummenden, gekühlten Kuchenauslage am Eingang. Kuchen, Kuchen, Kuchen hinter Glas und vor den Augen zweier Fräuleins mit weißen, vor den Bauch gebundenen Schürzen und aufwendig wirkenden Hochsteckfrisuren. Ich studierte die Bewegungen des Tortenhebers, und in meinem Gehirn zersetzte sich ein jedes auf Porzellan bereitgestellte und mit einer Edelstahlgabel versehene Kuchenstück in seine Einzelteile: Weißmehl, raffinierter Zucker, Eier, Butter, gemahlene Mandeln, darauf Sahne, noch mehr Zucker, aufgelöste Gelatine, Himbeeren oder geschmolzene Schokolade, Haselnusskrokant oder Puderzuckerglasur, geschichtet, gerollt oder gespritzt – ich fand es widerlich. So groß war mein Hunger.

    Nachts schwitzte ich mein Bett nass, weil ich Alpträume hatte. Ich lag stundenlang wach und wartete darauf, dass ich mich auflöste, ich wartete auf den Tod. Zwar ängstigte ich mich fürchterlich vor ihm, doch ich zog ihn der Aussicht vor, mehr essen zu müssen.
    Es dauerte nicht lange, da ging auch ich in Trainingshosen ins Atelier. Jeans trug ich nicht mehr, weil ich den rauhen, harten Stoff auf meiner Haut nicht ertragen konnte.
    Es wurde Anfang November, die Kälte kam, und unsere Ausflüge nach Wil fanden kaum mehr statt. Charlotte ging es an manchen Tagen so schlecht, dass sie mit offenen Wunden ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Manchmal drehte sie beim Essen durch, schrie alle an und verschwand auf ihr Zimmer. Ihre Gesichtsfarbe veränderte sich ins Gelbliche, und sie hörte auf, sich zu pflegen.
    Ich malte schweigend an meinen Bildern, trug die Ölkreide dick und noch dicker auf, bis die Farben grell leuchteten. Dann verwischte ich sie mit einem feuchten Pinsel. So erhielten sie mehr Glanz und ließen sich zu einem öligen Brei mischen.
    Die Uhr an meinem Handgelenk drehte sich während des Malens locker um mein Handgelenk, und das, obwohl ich das Armband seit meiner Ankunft schon um zwei Löcher verkürzt hatte. Anna trat manchmal an meinen Tisch heran und sah mir über die Schulter. Und auch ich stand ab und zu auf und betrachtete ihre Bilder. Wir waren einander keine Konkurrenz, und ich konnte ihre Arbeiten neidlos bewundern. Anna war noch viel freier, noch viel verrückter als ich, ich wirkte auf Anna dagegen überlegt, intellektuell und jungenhaft. Wir ergänzten uns selbst beim Malen, sie malte mit ihrem eigenen Blut, klebte Moose und Flechten in ihre Werke, ich brachte Szenen auf Papier, Menschen und Gesichter – ich vermisse diese Stunden im Atelier, wenn ich über sie schreibe.

6
    Sc hon vor Einbruch des Winters, etwa nach drei Wochen in Littenheid, die wie eine Ewigkeit schienen, kam Kurt auf die Station. Ein cooler Typ. Nervenzusammenbruch. Hatte in der Küche mit einem Messer seine Frau bedroht, geschrien, gezittert, dann war er vor den Augen seiner Tochter zusammengebrochen.
    Er war schätzungsweise vierzig Jahre alt, sehr stark und stämmig, hatte lichtes, längeres Haar und Hände mit ausgeprägten Knöcheln und Fingergelenken. Zwei Finger seiner rechten Hand hatte er im Rasenmäher gelassen. Mit den verbleibenden acht malte er Bilder. Er war als Hippie durch die Drogenszene getaumelt und von New Orleans in die Schweiz getrampt. Er wusste fast alles über Jazz und Blues. Gut trösten konnte er mich auch. Da Kurt auch einer war, der viel draußen sein musste, begleitete er mich oft auf meinen langen Spaziergängen. Ich zeigte ihm die Kühe und durchstreifte mit ihm die Wälder. Während wir liefen, erzählte er mir aus der weiten Welt. Er war wie ein großer Bruder für mich. Ich mochte seine dunkelbraunen Augen und das Herbe seiner Wangen. Mich faszinierte zu sehen, dass all die Geschichten, die er mir erzählte, in seinem Gesicht Regungen auslösten – seine Augen zum Funkeln brachten, seine Zähne beim Lachen hervorblitzen ließen. Ich sah ihn, während er redete, seitlich an und stellte mir vor, wie er mit pechschwarzen, dicklippigen Männern am Straßenrand sitzend Musik machte, rauchte und halluzinierte. Er habe viele Drogen genommen, aber nie über die Stränge geschlagen, erzählte er. Ich beneidete ihn um seine Erfahrungen. Wie gerne wäre ich mit ihm bekifft durchs Mississippi-Delta getrampt. Wie gerne hätte ich Drogen genommen! Sie würden meine Gedanken betäuben und alles um mich herum in Gold tauchen. Ich könnte vielleicht vergessen, ich könnte mich einfach darüber hinwegkatapultieren, dass ich seelisch und körperlich einging.

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