Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)
ein Gedanke kommt. »Woher weißt du, wie man ein Lamm ausnimmt und häutet? Wo hast du das gelernt?«
»Ich hab’s in Büchern gelesen und mir selbst beigebracht.«
»Ach«, sage ich.
»So was lernt man nicht auf der Schule«, meint Paul und hält kurz inne.
»Was eigentlich lernt man auf der Schule, das einem im späteren Leben nützlich ist?«
Beide zucken mit den Schultern.
Ich wische meine Nase am Ärmel ab. »Es wird dem Menschen jedenfalls weisgemacht, dass jede körperliche Arbeit nur für gewöhnliche Menschen ist. Aber wenn der gebildete, gescheite Mensch nix mehr zu fressen hat – wer ist da der Ärmere? Der, der schwatzen kann, oder der, der weiß, wie er ein Lamm ausnimmt?«
»Lamm ist so köstlich, ich weiß, wer der Ärmere sein wird«, meint Paul.
»Lamm ist aber auch nur köstlich, wenn es richtig zubereitet wurde«, sagt Jim.
»Nicht mein Ding, das macht meine Frau«, lacht Paul.
Meine Füße und Hände sind mittlerweile so kalt geworden, dass ich mich bald verabschiede. Ich lasse die beiden zurück und höre noch, während ich zum Haus gehe, wie sie sich Geschichten erzählen.
3
Da s erste Abendessen auf Pünt Nord bestand aus Birchermüesli. Es muss ein Donnerstag gewesen sein, denn immer donnerstags gab es Birchermüesli. Ich hasse Birchermüesli. Die blassrosa milchige Pampe wurde in Porzellanschüsseln mit labberigem Graubrot serviert. Und dazu gab es frische lauwarme Milch in abgewetzten Edelstahlkannen.
Ich konnte es nicht fassen. Ich war gezwungen, diesen Brei zu essen! Widerlich.
An meinem Tisch saßen an jenem Abend Silvia, Anna, Christoph, Charlotte, ich und dazu noch die Pflegerin Renate. Da ich nicht essen wollte, trank ich eine Tasse warme Milch nach der anderen.
»Kotzt du?«, fragte Charlotte, die emotionslos ihren Brei löffelte.
»Nein«, sagte ich.
Sie lachte ein kratziges, rauhes Lachen.
»Mit Milch geht’s immer leichter. Das Erbrechen«, klärte mich Anna auf.
»Ach so.«
Um mich herum wurde weiter still gelöffelt. Ich wagte immer nur kurz aufzuschauen, um mir die Gesichter anzugucken, sie alle wirkten blässlich, Anna trug Wimperntusche und Make-up auf der Haut, Silvias Gesicht hingegen wirkte wie gewaschenes und in der Sonne getrocknetes weißes Leinen. Ich senkte meinen Blick wieder aufs Birchermüesli. Darin versanken gerade die aufgetauten Johannisbeeren zwischen aufgequollenen Haferflocken.
Alle Geräusche hallten, da in dem rechteckigen Raum kein einziges Stück Stoff den Schall dämpfte. Durch die Fenster, die bis zum Boden gingen, kam das Abendlicht herein – es war erst 18 Uhr.
»Darf ich bitte aufstehen«, flehte Charlotte mit einem kuriosen Schweizerdeutsch, in dem ein französischer Akzent mitschwang.
Die Pflegerin sah auf die Uhr: »Nein, Charlotte. Dreißig Minuten, das ist die Regel.« Das Erbrechen geht fünfzehn Minuten nach dem Essen noch sehr leicht, dann wird es immer schwerer.
Ich bemerkte Silvia, die mir gegenüber wie eine dicke Mumie, gehüllt in das abgewetzte Jersey eines fünfundzwanzig Jahre alten blauen Trainingsanzuges, vor ihrem Teller saß. Sie inhalierte den Brei in der Schüssel und stopfte sich eine Scheibe Brot nach der anderen zwischen die blassen Lippen. Als kein Brot mehr da war, glotzte sie auf Charlottes Teller und auf meinen. Ich glotzte unfreiwillig zurück.
»Ist was?«, kam eine helle Stimme wie die eines Kindes aus ihrem dicken Inneren. Ihre eisigen Augen zerschnitten mein Gesicht und alles, was an mir dran war. »Du sollst nicht so gucken! Guck mich nicht so an!«
Ich sah weg.
»Silvia«, sagte Anna ruhig, »sie ist doch neu.«
Silvia ging nicht drauf ein. »Charlotte, darf ich deinen Teller?«, fragte sie und klang dabei wieder wie ein dreijähriges Kind.
Charlotte nickte.
Renate sagte: »Nein, Silvia.«
»Aber Charlotte isst doch nicht auf.«
»Du hast doch genug gegessen, Silvia, oder?«
Sie erstarrte wieder zur Mumie.
»Wie ist dein Name?«, wandte sich Christoph, ein junger Mann mit dicken Lippen, an mich. Er lispelte und war für einen Schweizer erstaunlich groß gewachsen.
»Louise«, sagte ich und hätte mich dabei fast an der Milch verschluckt.
»Ich bin Christoph. Und Anna ist Filmemacherin.« Anna lachte. »Filmchenmacherin«, korrigierte sie ihn. Die beiden waren wie Bruder und Schwester.
So vergingen die dreißig Minuten. Als habe ein Wecker geklingelt, schoben alle ihre Stühle zurück, erhoben sich und trugen die Teller in die Küche. Ich blieb noch sitzen und kam mit
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