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Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition)

Titel: Fräulein Jacobs funktioniert nicht: Als ich aufhörte, gut zu sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Louise Jacobs
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zu werden. Die Bäume, die Straße, alles will mich verschlingen. Der keuchende Atem stößt im Sekundentakt aus meiner Lunge, die Kälte zerschneidet mir die Luftröhre. Meine Arme sind schwer, und in meinem Kopf dreht sich alles, was ich sehe. Die vielen Farben der am Boden liegenden Blätter vermischen sich zu einem betäubenden Bunt. Ich rieche das nasse Laub, der Geschmack von Erde liegt auf meiner Zunge.
    Weiter, weiter renne ich.
    Geradeaus, gejagt von dem Gefühl, fliehen zu müssen und nicht entkommen zu können.
    Weiter, ich weiß nicht, wohin.
    Ich will weinen, kann meinen Tränen aber keinen freien Lauf lassen. Meine Schwäche lässt mich ächzen vor Scham. Ich will meine Mutter in den Arm nehmen, ich will sehen und fühlen, dass es ihr gutgeht. Es würgt mich. Mein Wille treibt und treibt mich weiter die Straße runter.
    Ich brauche Luft. Ich brauche Luft zum Atmen! Doch ich renne weiter.
    Ich laufe die Straße runter neben den Autos her. Ich renne mit ihnen um die Wette.
    Ich renne um mein Leben!
    Ich renne, um endlich zu sterben.
    Ich senke meinen Blick nur für eine Sekunde, doch es ist die eine Sekunde zu viel. Der dumpfe Knall meines Sturzes erschüttert die Umgebung. Meine Brust prallt auf die pechschwarze Straße, mein Oberkörper versinkt im Asphalt. Den Kopf spüre ich nicht mehr, auch mein Herz nicht. Ich keuche, bettle! Doch die Kräfte schwinden, ich kann nicht schreien. Niemand hört mich, niemand fängt mich auf. Ich versinke ganz tief, ganz langsam. Für einen kurzen Augenblick bin ich gestorben, dann wache ich auf.
    »42,8 Kilo«, hörte ich die Betreuerin laut sagen. Sie notierte sich die Zahl. Ich starrte auf die glühenden Ziffern, 42,8 Kilo, dachte ich. Schon wieder 200 Gramm zugenommen, und es sind erst zwei Wochen. Bedingung war, 500 Gramm pro Woche zuzunehmen.

5
    Mi ttlerweile lebte ich seit einem knappen Monat in Littenheid. Die Hecken auf der Grenze zur Gesellschaft, zum »normalen« Leben wuchsen immer höher. An den Wochenenden blieb ich nun in der Klinik. Nach Zürich, unter die Menschen dort, traute ich mich nicht mehr.
    Lieber machte ich stundenlange Spaziergänge. Oftmals wusste ich gar nicht, wohin ich laufen sollte. Ich lief an Kühen vorbei, blickte ihnen von dem elektrisch geladenen Zaun aus in die Augen und sah dem unaufhörlichen Spiel ihrer Ohren und Augenlider zu, die immer und immer wieder die Fliegen zu verscheuchen versuchten. Ich streifte durch die Landschaft, setzte mich unter einen Baum, um zu ruhen, und lief dann weiter. Ich kam an eine Käserei und spazierte mit im Wind flatterndem Schal wie ein Landstreicher durchs Feld. Ich war zwar gefangen in dem Käfig meines kranken Körpers, aber die Natur machte mich frei. Mein Gewicht stieg merklich. Ich aß in Ruhe und dreimal am Tag – so wie es sich gehörte. Das ging fünf Wochen gut. Als ich am fünften Dienstag auf die Waage trat, überkam mich die Angst. 44,4 Kilo.
    Als ich am Sonntagabend danach müde und hungrig von einem Spaziergang nach Pünt Nord zurückkam und nichts als Wurst, Käse und labberiges Brot serviert bekam, verweigerte ich erstmals das Essen.
    Ich wollte nach Hause.
    Ich hatte Hunger!
    Doch ich kämpfte ihn nieder.
    Dieses Erfolgserlebnis wollte ich den Therapeuten nicht gönnen, so schnell kriegten die mich nicht gesund.
    »Von euch lass ich mich nicht beherrschen!« Also stand ich auf und schloss mich in meinem Zimmer ein. Meine Mitpatienten gingen mir auf die Nerven, und ich wollte keinen von ihnen mehr sehen.
    Drei Tage später wiederholte sich die Szene. Ich war schon angewidert, als ich den Edelstahldeckel von meinem Teller heben musste. Dann saß ich vor gedünstetem Gemüse, verharrte bewegungslos und brachte keinen Bissen runter. Auch das Trinken verweigerte ich.
    »Louise, magst du gar nicht essen?«, fragte mich Renate.
    »Ach, lass mich doch in Ruhe und guck auf deinen eigenen Teller.«
    »Geht’s dir nicht gut?«
    »Nein. Ich habe Bauchschmerzen!«
    Geh weg, Teller, geh weg!, dachte ich. Der Teller blieb. Alle starrten mich an. Ich saß völlig überfordert und tatenlos da. Die Angst machte mich taub, der Stress ließ mein Herz rasen. Meine Hände wurden schwitzig, und mir war heiß. Irgendwann, dachte ich, bekomme ich so einen Hunger, dass ich nicht mehr aufhören kann zu essen. Ich stellte mir vor, dass ich platze wie eine Aubergine im Backofen.
    Ich stand auf, ging in mein Zimmer und wollte niemanden mehr sehen. Lieber krepieren als 50 Kilo schwer hier

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