Fragmente des Wahns
mir leid, Andreas.“ Er sah vom Fenster weg in das Gesicht seines Bruders. „Es tut mir wirklich leid. Ich hätte nie gedacht, dass ich unseren Schwur vergessen könnte.“
„Es ist nicht deine Schuld. Es ist die Zeit. Wir sind eben keine Kinder mehr.“
„Und doch ist es nur eine Ausrede. Wir haben es uns damals versprochen und es hat sich bis heute nichts daran geändert. Wir haben immer noch uns.“
„Und du deine Familie“, vervollständigte Andreas den Satz seines großen Bruders.
„Ist es das , was dich gerade so beschäftigt?“, wollte Alex wissen. „Es ist mir im Krankenhaus schon aufgefallen. Bist du traurig, weil du alleine bist oder wütend, weil ich es nicht bin?“
„Darum geht es nicht.“
„Worum dann?“
„Um uns!“ Andreas brüllte es regelrecht heraus. „Mensch, Alex, ich spiele kaum mehr eine Rolle in deinem Leben. Wenn dieser Autounfall nicht gewesen wäre, wer weiß, wann ich dich dann das nächste Mal gesehen hätte.“
„Aber das stimmt doch gar nicht“, protestierte Alex. „Du warst doch zur Geburtstagsfeier von Lilli eingeladen.“
„Ja … schon. Aber eben nur an solchen Tagen.“
Andreas verstummte und irgendwie konnte Alex ihn langsam besser verstehen. Er musste ihm recht geben. Ihre Beziehung hatte sich in den letzten Jahren wirklich verändert. Er hatte Lisa kennengelernt und dann war Lilli in ihr Leben getreten. Natürlich hatte er sich verändert, aber er hätte seinen kleinen Bruder nicht vergessen dürfen.
„Du weißt, dass du mir wichtig bist, oder?“
„Natürlich. Doch es ändert nichts daran.“
„Was kann ich tun, dass es dir besser geht?“
Andreas sah kurz von der Straße zu Alex. „Sag mir, was das für ein Termin ist.“
„Schon wieder dieses Thema?“
„Ja, Alex, schon wieder dieser Termin“, antwortete Andreas genervt. „Verdammt! Gerade haben wir noch darüber gesprochen, dass wir uns entfremdet haben und unser Schwur nichts mehr wert ist und jetzt weichst du wieder aus.“
„Denkst du wirklich, das alles ist einfach für mich?“
„Darum geht es doch gerade! Es geht darum, dass du dich mir nicht öffnest, nicht mit mir darüber redest und dir nicht helfen lässt.“
„Ich brauche keine Hilfe!“
„Doch, Alex, die brauchst du. Du merkst es nur nicht.“
Es war ehrlich und schmerzte.
Alex sah wieder hinaus in die Welt und betrachtete die Stadt mit den Menschen darin. Alles wirkte so surreal, als wäre er gar nicht richtig hier.
„Ich habe eine Sitzung.“
„Eine Sitzung?“, wiederholte Andreas. „Was denn für eine Sitzung?“
„Bei einem Psychologen“, antwortete Alex leise. „Sein Name ist Erik Fleischmann. Ich hatte bereits ein Gespräch mit ihm und er möchte mich noch ein paar Mal sehen.“
„Und warum?“
„Genau darum geht es ja, Andreas. Ich weiß es nicht. Ich hatte doch nur einen Autounfall und jetzt komm ich mir vor, als wäre ich wahnsinnig geworden. Doch das bin ich nicht!“
Den letzten Satz brüllte Alex. Er hatte sich kaum mehr unter Kontrolle. Diese ganze Sache nahm ihn mehr mit, als er zugeben wollte.
„Ich weiß zwar nicht, worüber dieser Fleischmann mit dir reden will“, sagte Andreas gelassen, „aber ich finde auch, dass es dir nicht schaden könnte. Du bist heute wirklich anders. Irgendwie nicht du selbst. Etwas bedrückt dich.“
„Ist es wirklich so schlimm?“
„Eigentlich nicht, aber es fällt auf. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn du mehr mit dem Psychologen darüber redest als mit mir, oder Lisa.“
„Glaubst du?“
„Ja.“
Es brach Stille über sie herein. Sie tat gut. Sie hatten sich ausgesprochen. Sie hatten gebrüllt und sich versöhnt. Sie hatten zum ersten Mal seit Langem wieder richtig miteinander gesprochen und ihre Geheimnisse miteinander geteilt.
Ja, diese Stille tat gut.
Es war gut.
Es klingelte an der Haustür.
„Geh ruhig. Ich pass derweil auf die Kleinen auf.“
Die Stimme gehörte Emilia. Sie war die Mutter von Sybille, einer Freundin von Lilli. Sie haben sich in der Mutter-Kind-Gruppe kennengelernt.
„Danke, Emilia, ich bin gleich wieder da“, sagte Lisa und öffnete die Tür.
Dahinter standen Sabine und Katarina alias Katie. Sie trug ein eingepacktes Geschenk, das fast so groß war wie sie selbst. „Wo Lilli?“, fragte sie.
Lisa lächelte die Kleine an und antwortete freundlich: „Sie ist im Garten, Katie. Alle sind da und feiern im Unterwasserparadies.“
Katie strahlte über das ganze Gesicht und rannte sogleich an Lisa
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