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Fragmente des Wahns

Fragmente des Wahns

Titel: Fragmente des Wahns Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Schmid
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das Ausmaß der Pein.
    Sein großer Bruder hatte sich vor ihn gestellt, als er selbst vor Angst zurückgewichen war, und hatte die volle Wucht der offenen Hand ihres Vaters abbekommen. Andreas konnte deutlich die rote, pulsierende Wange auf dem Gesicht seines Bruders erkennen. Alex hatte ihn beschützt.
    „Raus hier!“, brüllte ihr Vater wie in Trance. „Raus hier hab ich gesagt! Raus aus meinem Haus! Verschwindet! Verschwindet und kommt ja nie wieder zurück!“
    Er lallte und brüllte. Er hörte gar nicht mehr auf. Dann schlug er noch einmal auf den Sofatisch. Ihr Vater fing regelrecht zu zittern an. Dann packte Alex seinen kleinen Bruder und verschwand mit ihm hinaus in die Abenddämmerung.
     
    Kaum hatten sie ihr Zuhause verlassen, fing es zu regnen an. Es war einer dieser berühmten Sommergewitter, bei denen man das Gefühl hat, als hätte sich der Himmel selbst verflüssigt und würde auf die Erde hinabstürzen. Für Alex symbolisierte dieser plötzliche Regenguss die Tränen, welche er nicht vergießen konnte. Er musste für seinen Bruder stark bleiben.
    Sie rannten. Sie rannten immer weiter. Der Regen setzte sich auf ihrer Kleidung nieder und erschwerte das Laufen. Die trockene Erde saugte sich voll, wandelte sich in Matsch und die beiden Brüder stapften weiter. Sie überquerten den Spielplatz in der Nachbarschaft und erreichten wenig später ein Carport in der Nähe.
    Alex bot Andreas die kleine Holzkiste und er nahm dankend an. Er setzte sich neben seinen kleinen Bruder auf den trockenen Kies. Der Regen prasselte unaufhaltsam auf das Wellblechdach des Carports. Es war wie das Trommeln der Götter.
    Trotz der Regentropfen, die Andreas’ Gesicht streichelten, konnte Alex die Tränen dazwischen erkennen. Er legte den Arm um seinen Bruder und versuchte ihn zu trösten. Doch genau das Gegenteil war der Fall. Andreas heulte sich den Schmerz von der Seele und es war gut so.
    Alex nahm ihn fester in die Arme, drückte ihn dicht an sich, bis dieser von der Holzkiste rutschte, um sich in Alex’ Oberkörper zu verkriechen. Es zerbrach ihm fast das Herz, seinen kleinen Bruder so zu sehen und gleichzeitig wuchs ein überdimensionaler Hass in seinem Inneren heran.
    Wie konnte ihr Vater nur so sein? Wieso tat er all das? Warum versank er im Alkohol und schlug seine eigenen Kinder? Wie war ein Vater nur dazu in der Lage? Alex verstand es einfach nicht.
    „Weißt du, Andreas“, sagte er und bot dem Prasseln des Regens die Stirn, „wir haben immer noch uns. Mutter ist tot und Gott weiß, wie schlimm das ist, aber wir haben immer noch uns. Wir brauchen ihn nicht, Andreas. Er wird uns nicht brechen. Verstanden? Er wird uns nicht zerstören.“
    Alex kämpfte mit seinen Tränen. Er durfte jetzt nicht schwach werden. Er durfte jetzt kein Kind sein. Er musste ein Vater sein … für Andreas.
    „Wie meinst du das?“, fragte sein kleiner Bruder und hob dabei sein tränennasses Gesicht. Er suchte nach Hoffnung.
    „Wie ich es gesagt habe, Andreas. Wir haben noch uns. Mama ist fort und Vater können wir nicht brauchen. Es sind nur noch zwei Jahre, Bruder, dann bin ich volljährig, und wenn es sein muss, dann kann ich dich adoptieren, bis auch du allein leben kannst. Es sind nur noch zwei Jahre. Nur noch zwei Jahre, verstehst du?“
    Andreas nickte. Genau das war die Hoffnung, nach der er gesucht hatte. Es half, wenn auch nur ein klein wenig. Es musste genügen … zumindest vorerst.
    „Wir machen einen Schwur … hier und jetzt.“
    Alex richtete Andreas’ Oberkörper auf und sah ihn dabei tief ins Gesicht. Dann streckte er seinen rechten, kleinen Finger aus.
    „Ab heute schwören wir uns, dass wir uns alles erzählen werden. Wir werden niemals Geheimnisse voreinander haben. Wir werden über alles reden, egal wie schlimm es auch sein mag oder wie peinlich es uns auch sein sollte. Wir werden uns niemals belügen oder streiten, weil wir nur noch uns haben.“
    Andreas nickte aufrichtig.
    „Dann komm, lass es uns besiegeln.“
    Er streckte seinem kleinen Bruder den kleinen Finger entgegen und dieser tat es ihm gleich. Sie verhakten die Finger ineinander und der Schwur war besiegelt. Nichts konnte ihn brechen.
    Sie waren Brüder in Ewigkeit.
    Schließlich hatten sie nur noch sich.
     
     
    Ja. Er erinnerte sich wieder.
    Die Stadt da draußen zog an ihnen vorbei und Alex kehrte zurück in die Gegenwart.
    „Es tut mir leid.“
    Es kam so plötzlich, dass es Andreas gar nicht richtig wahrnahm.
    „Wie bitte?“
    „Es tut

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