Fragmente: Partials 2 (German Edition)
versteckt. Der Angriff kam so schnell, dass der Unterricht nicht mehr abgesagt werden konnte. Deshalb weiß ich nicht, was aus meinen Angehörigen wurde. Wahrscheinlich bin ich der einzige Überlebende. Meine Eltern hatten weniger Glück. Sie waren nicht in der Schule, und danach konnten wir sie nicht mehr finden. Aber ihr sagt, einige Menschen seien von Natur aus immun. Vielleicht leben sie ja noch. Das ist irre – die besten Neuigkeiten, die ich je gehört habe.«
Kira musste lächeln, obwohl sie Mühe hatte, seinem atemberaubenden Tempo zu folgen. »Es tut mir leid, dass du deine Eltern verloren hast.«
Phan sah sie fragend an. »Leben deine Eltern noch?«
Kira schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Keiner von uns hat noch Eltern.«
»Bei uns schon.« Phan zuckte mit den Achseln. »Vale konnte einige Familien retten und impfen. Mir macht es nichts aus – ich hätte die zwölf Jahre nicht überlebt, wenn ich immer nur um meine toten Verwandten getrauert hätte. Der Mensch muss irgendwie weiterleben.«
Samm und Calix schienen in ein ähnliches Gespräch vertieft zu sein. Kira hoffte nur, dass Samm sich zurückhielt und seine wahre Identität nicht verriet. Calix bemühte sich sehr um ihn, lächelte und lachte, berührte ihn hin und wieder leicht am Arm oder an der Schulter. Kira erlitt einen Anfall von Verfolgungswahn, fürchtete sie doch, Calix könnte Samm verführen, um die Wahrheit herauszubekommen. Doch gleich darauf erkannte sie, wie dumm dieser Gedanke war. Viel eher war Calix einfach nur hingerissen, weil die Auswahl an attraktiven jungen Männern auf einmal um ein Exemplar bereichert worden war.
Aber irgendwie machte diese Vorstellung Kira nur noch wütender.
»Ein Jäger hat nicht unbedingt die verantwortungsvollsten Aufgaben«, erklärte Phan. »Aber er ist sehr wichtig, denn nur durch ihn bekommen wir Proteine auf unseren Speiseplan. Proteine, die nicht aus Eiern stammen, meine ich. In den Bergen leben Hirsche, Elche und Bergziegen, und bei uns finden sie Futter. Daher lassen wir die Tore offen und haben sogar einige Zäune eingerissen, damit die Tiere hereinkommen können. Das klingt vielleicht ganz einfach, ist es aber nicht. Manchmal trauen sie sich gar nicht näher, manchmal greifen Wölfe die Hühner und Lämmer an. Die Jäger müssen also Fallen stellen, Fährten lesen und dafür sorgen, dass sich die Nahrungskette in die richtige Richtung bewegt.«
Er hatte etwas ungeheuer Fröhliches an sich und wirkte weder angeberisch noch überheblich. Er war einfach nur stolz auf seine Erfolge und übte seine Tätigkeit gern aus. Seine Begeisterung über jedes neue Gesprächsthema war eher ansteckend als abstoßend. Bald gab Kira jeden Versuch auf, sein eifriges Geplapper zu unterbrechen, und hörte stumm zu, wie Phan über Wolfspelze, das Überleben im Ödland und die Probleme bei der Umwandlung von Büroraum in Wohnquartiere sprach. Sie kamen an mehreren großen Gebäuden vorbei. Die eigenartige Mischung aus Wohlstand und nacktem Überleben, die in der Lebensform dieser Gemeinschaft zutage trat, fand Kira immer wieder verblüffend. Die Menschen verfügten über fließendes Wasser, elektrischen Strom und beschäftigten sogar einige Gärtner, die gemächlich die Wiesen mähten und die Büsche schnitten. Andererseits mussten sie jedoch auf die Beute aus den Bergungseinsätzen verzichten, die Kira seit ihrer Kindheit kannte. Sämtliche Bekleidungsgeschäfte in der Umgebung waren entweder vom Säureregen zerstört oder von brennbaren Chemikalien vernichtet worden. Deshalb trugen die Bewohner selbst gefertigte Kleidung, die sie aus Tierfellen, alten Vorhängen und Bettlaken zusammengestückelt hatten. Wahrscheinlich hätten diese Menschen Kiras früheres Leben umgekehrt genauso bizarr gefunden – eine Versammlung elegant gekleideter Diven, die in ihren weitläufigen Ruinen Kerzen und Holzöfen benutzten. Gab es überhaupt noch einen Ort auf der Erde, wo das Leben normal verlief? Was bedeutete der Begriff normal eigentlich noch?
Auch die Schule befand sich in einem ehemaligen Bürogebäude. In den beiden untersten Stockwerken schrien, kreischten und johlten glückliche Kinder. Kiras Herz schlug höher, als sie sich dem Lärm näherten. Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass es in diesem Reservat überhaupt Kinder gab, ganz zu schweigen von so vielen. Dafür habe ich gearbeitet, dachte sie. Diese Geräusche, dieses verrückte, wundervolle Chaos. Eine neue Generation entdeckt und erobert die Welt.
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