Frame, Janet
Zeltleinen bohrten und eine Rose stickten, weil anscheinend eine Regel erlassen worden war, dass keine Rosen mehr in Gärten wachsen durften, sondern nur noch auf Tischtüchern und Kissen und Ofenschirmen und Kaminvorlegern, wo man rote und grüne Wollwürmer durch ihre Blütenblätter fädelte, die ihre Herzen ausfraßen wie Krebs. So war der Raum mit Rosen und Wolle angefüllt und mit Menschen, die hefteten und auftrennten und einfädelten und stichelten und webten. Und die Scheren wurden gezählt und kontrolliert und auf einem Extratisch verwahrt, und man musste um Erlaubnis bitten, wenn man sie anfassen und in der Hand halten und benutzen wollte, und eine Schwester stand dicht neben einem, für den Fall, dass man beschloss, sich mit einem Schnitt vom anerkannten und sicheren Schatz der realen Welt zu trennen und alle Menschen, die Ärzte und Schwestern und Büroangestellten und Kellner und Kaufleute und Staatsminister und alle anderen verloren und abgeschnitten und an ein unverständliches Traummuster geklammert zurückzulassen. Sie mussten also aufpassen. Aber Daphne schrie angesichts der Wolle, deshalb setzten sie sie in eine Ecke, draußen, wo es ruhig war, und ihre Mutter gab ihr einen Pfannkuchen mit Butter und Himbeermarmelade und versprach ihr noch einen, wenn sie still und brav sitzen bliebe.
Es war beinahe Essenszeit, als die Tür zum Arbeitsraum aufging und eine Frau hereinhinkte. Sie trug einen weißen Kittel und hielt ein in ein weißes Tuch gewickeltes Bündel unter dem Arm. Sie ging zur Schwester und flüsterte ihr etwas zu, und die Schwester ging zur Näherin und flüsterte der etwas zu. Alles war sehr geheimnisvoll. Dann hinkte die Frau mit dem Haar von der Farbe alten Lehms und dem weißen Bündel unter dem Arm zu Daphne hin und nahm sie bei der Hand.
«Komm mit, meine Liebe.»
Aber warum?
Daphne wollte nicht mitgehen. Sie hatte ruhig dagesessen, zugesehen und gelächelt und darauf gewartet, dass ihre Mutter ihr noch einen heißen Pfannkuchen mit schwarzer Johannisbeermarmelade anstelle der Himbeermarmelade brachte. Danach wollte sie vielleicht mit Toby zur Müllgrube gehen, wo sie bestimmt Schätze finden würden, und unterwegs ihren Namen an die Wand der Mühle schreiben und zusehen, wie die Mehlsäcke die Gleitbahn hinunterrutschten, und dabei denken:
Wenn wir nun darunter stünden, was dann?
«Komm, Daphne.»
Die hinkende Frau nahm einen Arm, und die Schwester nahm den anderen.
Aber warum?
Sie führten sie in ein Zimmer, blitzblank und sauber und weiß wie eine Küche, und setzten sie auf einen Stuhl in der Mitte des Zimmers, und die Hinkende, deren linker Absatz dicker war als der rechte und dick und schwarz wie ein Lakritzblock, entrollte vorsichtig, als ob es sehr kostbar wäre, ihr Bündel auf dem Tisch. Aber warum? Es bestand nur aus einem Stück Tuch und einer Schere zum Haareschneiden und noch einem Stück Tuch, das wie ein weißer Teewärmer aussah. Dann legte die Hinkende, die von der Schwester Mrs Flagiron genannt wurde, Daphne einen Plastik-Umhang um die Schultern und begann, ihr das Haar zu schneiden, bis der Fußboden ganz voller Haare war, und Mrs Flagiron schien nicht zu wissen, wann sie aufhören musste. Einmal hob Daphne die Hand, um nachzufühlen, wie viel noch übrig war, aber Mrs Flagiron nahm ihren Arm und steckte ihn unter den Umhang.
«Sie ahnt es», flüsterte Mrs Flagiron der Schwester zu.
Danach saß Daphne ganz still und wartete darauf, dass die Hinkende fertig wurde. Sie dachte: Diese Frau kommt aus Griechenland. Nein, sie kommt aus der Unterwelt. Ich erkenne es an ihren dicken Armen, dass sie über viele Flüsse der Unterwelt gerudert ist und den schwimmenden Leichen das Haar abgeschnitten und es in ihrem fleckenreinen Tuch gesammelt und in ihrem Haus gelagert hat, das viele, viele Zimmer hat, wobei sie nur ein einziges Zimmer benutzen kann und bald überhaupt keinen Platz mehr zum Wohnen haben wird, weil sämtliche Zimmer voller Haare sind. Ich kenne sie. Ich kenne sie.
Und Daphne rührte sich erneut, und wieder packte Mrs Flagiron sie beim Arm und flüsterte der Schwester zu:
«Sie ahnt es.»
Und als der Zeitpunkt kam, da die hinkende Frau fertig wurde und eigentlich den mit einem Volant besetzte Plastik-Umhang hätte ausschütteln und süß duftendes Öl auf Daphnes Haar verreiben und einen Handspiegel suchen und ihn Daphne geben und lächelnd und zufrieden hätte sagen müssen:
«Na, was meinen Sie? Gefällt es Ihnen? Sie wissen ja, man trägt
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