Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
bekommen. Doch andererseits gab es kaum etwas, das diese Sehnsucht nicht auslöste.
Auf dem Dach war alles für das Essen vorbereitet worden, und endlich war auch die Temperatur gesunken, sodass eine wunderbare, parfümierte Kühle die von einem makellosen Vollmond erhellte Tafel durchwehte. Ich stand bei den meisten anderen Frauen, während die Männer speisten. Nur selten, wenn überhaupt je, aß die gesamte Familie zusammen. Für die Männer bedeutete so ein Essen einen absoluten gesellschaftlichen Höhepunkt, für die Frauen bedeutete es eine massive Zeit- und Energieverschwendung. Infolgedessen würden wir später essen, nach ihnen.
Und während wir dort standen, wehte der grässliche Gestank über uns hinweg. Und verzog sich wieder.
In mancher Hinsicht gleichen die Sitten im Nahen Osten jenen in den amerikanischen Südstaaten; ich glaube, dass mein Vater sich aus diesem Grund in beiden Gesellschaften so wohl gefühlt hat. Mimi hatte mir eingebläut, es sei die oberste Pflicht einer Gastgeberin, alles dafür zu tun, dass die Gäste sich wohl fühlten und das Gefühl bekamen, gern gesehen zu sein. Nichts durfte dieses Gefühl trüben, weshalb meine Familie auch stets alle Familienzwiste unterdrückt hatte.
Bei den Saudis war das ganz ähnlich. Nichts durfte dem Gast Unbehagen bereiten. Über negative Dinge wurde keinesfalls gesprochen; man stocherte nicht in alten Wunden herum.
»Alles Unangenehme ignorieren« hieß das Motto.
Und nach diesem Motto wurde auch jetzt gehandelt, obwohl uns dieser entsetzliche Geruch überzog. Niemand erwähnte ihn mit einem Wort, auch wenn wir alle würgten, nach Luft schnappten, keuchten. Es war unvorstellbar. Dann drehte der Wind, und die Luft war wieder rein.
Die bunte Ansammlung von ausländischen Königen, Prinzen und Adligen gab vor, nicht das Geringste gerochen zu haben.
Daduas Augen tränten, doch er schwieg. Verlegenes Schweigen senkte sich über die Tische, darum reichte ihm der Gibori Abishi den Kinor. »Sing uns ein Lied, Adoni.«
Dadua sah nicht einmal auf; er zupfte ein paar Mal an den Saiten, um sie zu stimmen. Während wir auf seinen Einsatz warteten füllte sich die Luft mit unausgesprochenen Hoffnungen.
Wieder drehte der Wind, und erneut schlug uns der Gestank nieder. Höflich oder nicht, man hätte sowieso keinen passenden Kommentar finden können. Der Geruch war einfach nicht zu ignorieren. »Bei Shaday, was ist das?«, fragte eine Frau mit Tränen auf den Wangen.
»Sie kommen zurück!«, hörten wir einen Ruf vom Tor.
»N’tan kommt zurück!« Der Shofar erklang. Tumultartig hetzten wir aus dem Palast und rannten zum schwer bewachten Tor hinunter. Der Gestank war kaum auszuhalten. Er ging von den Männern aus; es war gar nicht anders möglich. Die Nacht hatte sich endgültig über das Land gesenkt, weshalb jeder von uns eine Fackel hielt und wir uns an der Straße aufbauten, um ihnen den Weg hinauf in die Stadt zu weisen.
Ich versuchte im Dunkel etwas zu erkennen, meinen Mann auszumachen. Doch ich sah ihn nicht; ich hatte das Gefühl, gleich laut heulen zu müssen. »Sind das die Männer?«, fragte jemand.
»Was haben sie getan?«, fragte Avgay’el, die Nase in der Hand verborgen und mit Tränen auf ihrem makellos ovalen Gesicht.
Abiathar, der Hohe Priester, trat vor. Auch ohne seine Robe wirkte er eindrucksvoll.»N’tan?«, rief er in die Nacht.
»Ken«, hörten wir eine Stimme aus dem Dunkel.
»Ihr müsst euch reinigen, ehe ihr die Stadt betretet«, rief er. »Ihr stinkt.«
Ich konnte nicht fassen, welche Zeremonien die Männer über sich ergehen lassen mussten, ehe man sie in die Stadt ließ.
Waschen und rasieren, Gebete und Besprechungen ... halb wahnsinnig wanderte ich durch die Nacht und versuchte Geduld zu bewahren. Schließlich kletterte ich auf den Wehrgang über dem Tor und sah hinaus ins Tal, während ich darauf wartete, dass man meinen Gemahl zu mir ließ.
Um Mitternacht ging Dadua zu den Männern hinaus. Die Akustik war bescheiden, deshalb hatte ich keine Ahnung, was dort gesprochen wurde. Schließlich ließ ich mich auf dem Gang zwischen den Wachtürmen nieder, zum Schutz vor dem Wind dicht an die Mauer gepresst, und schlief ein. Am Rande meines Bewusstseins hörte ich von Zeit zu Zeit Sandalen über Stein klatschen. »Chloe?«, hörte ich schließlich.
Ich erwachte aus einem Traum, schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht, das ich über alles in der Welt liebte. »Du bist wieder da«, hauchte ich und streckte Cheftu
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