Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
bei Tageslicht. »Deine Ketten!«, rief er aus. »Wo sind sie?«
Ich grinste.
»Aschenputtel hat nicht auf den Prinzen gewartet«, meinte ich ironisch.
Wieder klirrte ein Schwert auf Stein, und jemand räusperte sich laut. »Wir sollten verschwinden, damit der arme Mann
nicht weiter seine Waffe malträtieren muss«, sagte ich.
»Ich rühre mich nicht von der Stelle, ehe du mir das erklärst.«
Lächelnd zuckte ich mit den Achseln. »Ich habe mir die Freiheit erworben. Ab dem heutigen Tag.«
»Was? Wie?«, fragte er. »Du setzt mich immer wieder in Erstaunen, chérie. Du hast sie heute erworben?«
»Lo«, korrigierte ich. Ein junger Gibori marschierte pfeifend vorbei, den Blick fest auf das Tal gerichtet. Ich sah wieder Cheftu an. »Doch als Yoav gehört hat, dass du hier bist und dass Dadua dich empfängt, hat er nach mir geschickt.«
Cheftu verschränkte die Arme und zog eine Braue hoch.
»Und?«
Wir hatten uns im düsteren Schein einer Lampe getroffen. Ich hatte den Wein gerochen, noch ehe ich in den Raum getreten war. »Du bist keine Sklavin mehr«, hatte Yoav gesagt. Er klang und wirkte nicht betrunken, doch er hatte sich bis auf die Untertunika ausgezogen. Im flackernden Licht der Lampe zuckten seine kräftigen Muskeln, und seine zerklüfteten Gesichtszüge wirkten weicher als sonst. »Darum komm und lass deine Ketten lösen.«
Seine Worte waren in keiner Weise zweideutig, doch seine Stimme klang suggestiv. So blieb ich stehen, denn einerseits wollte ich ohne Ketten sein, wenn ich Cheftu traf, andererseits jedoch hatte ich Angst davor, Yoav so nahe zu kommen. Mir war klar, dass er mich nicht anrühren würde, mir war klar, dass ich ihn nicht anrühren würde, dennoch war es ein merkwürdiges und beängstigendes Gefühl, ihn so extrem wahrzunehmen. Ich war verheiratet. Damit nicht genug, ich war glücklich verheiratet! Wieso stellte ich mich so an? Mein Schlucken hallte laut durch die Dunkelheit.
»Wir sind dir etwas schuldig.« Er räkelte sich in seinem Stuhl. »Ich jedenfalls. Ohne deine Mithilfe hätten wir keine Bresche in diese Stadt schlagen können.«
»Ich würde das kaum als >Mithilfe< bezeichnen. Es war schon eher eine Erpressung, Adoni.«
Er lachte leise und zuckte mit den Achseln. »Ich tue alles, um meinem Lehnsherrn zu dienen.«
»Du hast bekommen, was du dir gewünscht hast, Rosh Tsor haHagana.«
Seine grünen Augen blickten in meine. »Was ich wirklich will, kann ich nicht bekommen.«
Ich schluckte wieder, denn ich spürte die Hitze in meiner Brust und auf meinem Gesicht.
»Ich werde es mir nicht nehmen. Avayra goreret avayra.«
»Was soll das heißen, dass eine Missetat die nächste nach sich zieht?«
»Ach, Isha. Du bist eine solche Heidin.« Er nahm ein Werkzeug von dem niedrigen Tisch an seiner Seite. »Setz dich, dann werde ich dir etwas über mein Volk erklären.«
Die Spannung hatte sich gelöst, aber ich war immer noch nervös. Ich ließ mich vor ihm auf einem Hocker nieder und zog ganz behutsam die Kette heraus. Ich hatte sie Tag und Nacht tragen müssen, doch ich hatte mich irgendwann daran gewöhnt, an das Gewicht und das Gefühl. Es war ähnlich wie lange Haare zu haben oder sich ständig die Hände zu maniküren. Irgendwann fand man sich einfach damit ab. Allerdings hatte diese Art von Sklaverei wenig mit allen anderen Formen von Sklaverei zu tun, von denen ich je gehört hatte. Er zog die Metallglieder nach oben, bis ich ein leichtes Zerren an meinem Ohr spürte, dann hörte ich die Schläge des kleinen Hammers.
»Lifnay Dadua herrschte Labayu. Lifnay Labayu zum König gekrönt wurde, herrschten Richter über uns. Von der Zeit ha- Moshes bis zu Labayu lebte jeder Stamm für sich und hatte seine eigenen Richter, die wiederum ihre eigenen Richter hatten und so fort.«
Die Schläge von Metall auf Metall gaben seiner Geschichte Rhythmus.
»Als also die Stämme wieder ins Land zogen, war Achan unter den Soldaten, die ausgesandt wurden, die Stadt Ai einzunehmen. Sie verloren die Schlacht, die sie eigentlich nicht hätten verlieren dürfen. Achan war ein tapferer Soldat und hatte den Angriff geleitet. Der damalige Richter wollte von Shaday wissen, warum wir verloren hatten. Shaday sagte, er könne uns nicht helfen, nachdem wir die Übereinkunft mit ihm gebrochen hatten. Man hatte uns gesagt, dass die Eroberung des Landes eine heilige Aufgabe sei, Herim. Es steht uns nicht an, zu schänden und zu plündern, wie es die Unbeschnittenen tun. Ach, nun, nach einigen
Weitere Kostenlose Bücher