Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
war. Doch wie hätte er ansonsten ihre englischen Erläuterungen verstehen können?
»Welche Zauberkräfte er besessen hat!«, Sie seufzte. »So ein mächtiger Mann.«
Cheftu war ziemlich sicher, dass es sich bei dieser Sache um ein wissenschaftliches Phänomen handelte, doch für RaEm war Zauberei die einzig mögliche Erklärung. »Offenbar ist seine Zauberkraft nicht mit ihm gestorben?«
»Nein. Sie lebt in den Straßen weiter und auf den Booten, die über den Nil fahren. Es ist eine Zauberkraft, die jeder in Händen halten kann.«
Cheftu starrte stirnrunzelnd in die Dunkelheit. »Jeder kann über diese Zauberkraft verfügen?«
»Nein. Also, ja und nein.« Sie klang durcheinander. »Ich habe alles darüber aus dem Fernsehen gelernt. Das Fernsehen setzt sie auch ein.« Die Verwirrung in ihrer Stimme legte sich und machte der RaEm-typischen Arroganz Platz. »Selbst ich könnte den Blitz beherrschen, wenn ich wollte.«
Cheftu sah davon ab, sich nach dem »Fernsehen« zu erkundigen. Chloe hatte gelegentlich davon erzählt, doch sie hatte sich meistens darüber lustig gemacht. Seine Geliebte schien ihr Jahrhundert weit weniger zu schätzen als RaEm. Und sie hatte kein einziges Mal von einem feuerspeienden Drachen gesprochen, der mit einem Schlüssel in den Himmel flog und den Blitz aufschloss. Das ergab doch keinen Sinn. Irgendetwas fehlte in dieser Geschichte, da war er sicher. Welche Erklärung hätte Chloe wohl einleuchtend gefunden? Er hätte sie so gerne gefragt, sie so gerne gehalten, während sie nachdachte, sie so gerne berührt, während sie antwortete. Aii, Chloe, wo bist du? »Was hat dich noch an Chloes Welt fasziniert?«, fragte er.
»Ramses«, antwortete RaEm sofort mit vollem Mund. »Gib mir noch etwas Sushi, dann erzähle ich dir von ihm.«
Da dies für RaEms Verhältnisse schon der Gipfel der Freundlichkeit war, reichte Cheftu ihr eine weitere Scheibe Fisch. Nun waren nur noch Schuppen und Kopf übrig. Sollte er versuchen, noch einen Fisch zu fangen? Aber jetzt war es dunkel, sie mussten sich ausruhen. Morgen würde er mehr zu essen besorgen und die Orakelsteine befragen, was sie tun sollten, um zu überleben - RaEm sollte nichts von ihnen erfahren.
Die Chancen für eine Rettung waren so gering, dass sie an ein Wunder grenzten. Es war Winter; zu dieser Jahreszeit segelte niemand über die Ägäis. Das Wasser brachte den Tod. Jeder von Odysseus bis zum Apostel Paulus kannte traurige Geschichten von Menschen, die versucht hatten im Winter das Mittelmeer zu durchqueren. Wie viele andere waren wohl schiffbrüchig gegangen und vergessen worden?
Er blickte hinaus auf die grenzenlose See. War Chloe irgendwo da draußen? Sie hatten sich noch jedes Mal wieder gefunden, doch diesmal, befürchtete Cheftu, war die Herausforderung erheblich größer. RaEm steckte in der Haut, die Chloe getragen hatte. Wie also sah seine Geliebte jetzt aus? Offenbar hatten die beiden Frauen erneut die Körper getauscht, sodass RaEm bei ihm und Chloe im Jahr 1996 - das Datum jagte Cheftu immer noch ein wenig Ehrfurcht ein - gelandet war, genau auf jenem Sandstreifen, auf dem RaEm ihren Worten zufolge spazieren gegangen war.
Doch Cheftu kannte RaEm. Es war ihr Geburtstag gewesen.
Er bezweifelte, dass sie zur Feier des Tages allein über einen Sandstreifen spaziert war. Sie belog ihn, eine Reaktion, die für sie so gewohnt und natürlich war wie das Atmen. Nichts, was sie sagte, konnte man ihr glauben. Nichts.
»Ramses war phantastisch!«, sprudelte es aus RaEm heraus. Wieder klang sie ganz begeistert. Vielleicht hatte die Moderne RaEm ja doch verändert. Urteilte er zu streng über sie?
Er verkniff sich die Bemerkung, dass er von Ramses gehört hatte - offenkundig ahnte sie nicht, dass Cheftu aus ihrer Zukunft und gleichzeitig Chloes Vergangenheit kam und dass Chloe zufolge Cheftus Geburtsname zu Chloes Zeit auf der ganzen Welt bekannt war. Er hatte von Ramses gehört. Nicht nur das, in seinem eigenen Jahrhundert war Cheftu durch eine ganze Reihe von Tempeln spaziert, die der lächelnde Pharao hatte bauen lassen.
RaEms Stimme erwärmte sich. »Viele Herrscher nach der Zeit Pharao Hatschepsuts, Leben!, Gesundheit!, Wohlergehen!, gab es einen Pharao namens Ramses«, führte sie aus. »Aii, Cheftu, er war ein großartiger Mann, einfach großartig! Unter ihm wurde Ägypten zu einem großartigen Land! Er ließ vor dem zweiten Katarakt einen riesigen Tempel bauen, mit dem seine Gemahlin geehrt werden sollte. Als Chloe noch ein
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