Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
Gedanken bekam Cheftu eine Gänsehaut.
Auch der Aufenthalt in Chloes Moderne schien RaEm nicht gebessert zu haben.
»Kannst du nicht mal einen Fisch fangen?«, fragte sie in ihrer monotonen Interpretation von Chloes amerikanischem Akzent. Er hasste ihre Stimme ebenso sehr, wie er Chloes liebte. Und er konnte sich auch nicht erklären, warum sie Englisch mit ihm sprach - selbst er und Chloe unterhielten sich in der jeweiligen Landessprache, wenn sie zusammen waren.
Stundenlang hatte er die Leine ins Wasser baumeln lassen, wartend und kaum atmend. Sein Arm tat ihm weh und RaEms schneidende Kommentare waren ihm keine große Hilfe. Während sie schlief, hatte er den Arm ausgeruht, denn er war erschöpft, hungrig und mutlos. Jetzt massierte er kurz seine Muskeln, um dann erneut die Leine auszuwerfen.
»So wie du dich anstellst, könntest du genauso gut wichsen«, sagte sie in seinem Rücken. Der Dämon war erwacht.
Wäre sein Bauch nicht genauso leer gewesen, hätte Cheftu die ganze Leine ins Wasser geschmissen. Er hatte sie mühselig zusammengeflochten, indem er Faden um Faden aus RaEms
Rocksaum gelöst und dann zusammengeknotet hatte. Auch dabei hatte er sich erst gegen sie durchsetzen müssen, sonst hätte sie ihm keinen Stoffstreifen überlassen.
Er drehte sich zu ihr um. Ihr verbranntes Haar stand ihr vom Kopf ab, ihre Augen waren braun. Krokodilsbraun. Cheftu schaute wieder aufs Wasser. Er nahm an, dass sie immer noch in der Ägäis waren. Dort hatten er und Chloe sich befunden, als sich unter dem Querbalken das Portal geöffnet hatte. In welcher Zeit sie gelandet waren, konnten weder er noch RaEm sagen. Und wieso sie hier waren, blieb ebenfalls ein Mysterium. Wo war Chloe? RaEm behauptete, sie seien einander unterwegs »begegnet«. War Chloe in ihre ursprüngliche Zeit und Welt zurückgekehrt?
Cheftu hätte geschluckt, doch seine Kehle war zu trocken dafür. Seine Haut war unter dem Wind fast blau angelaufen. Er trug nichts als eine Schärpe, die seinen Körper zwar nicht wärmen konnte, doch in der sicher die zwei Orakelsteine lagen, die er aus der untergegangenen aztlantischen Kultur mitgenommen hatte. Alles in allem würde er sich wahrscheinlich eine Lungenentzündung und damit den Tod holen - wenn das noch möglich war.
Etwas ruckte an der Angelschnur und Cheftu konzentrierte sich ganz darauf, den Fisch herauszuholen, auch wenn sein Magen bei dem Gedanken an etwas zum Essen umgehend zu knurren begann. RaEm assistierte ihm in der ihr eigenen Art, indem sie ihn abwechselnd lobte und beschimpfte.
»Wie willst du ihn zerteilen? Wie sollen wir ihn kochen?«, zeterte sie. »Er ist noch nicht mal tot! Was bist du eigentlich für ein Fischer? Sollen wir ihn etwa roh essen?«
Er war so hungrig, dass er am liebsten die Zähne in die Schuppen geschlagen hätte, doch ihm war klar, dass er den Fisch aufschneiden musste. Nach kurzem Suchen hatte er einen scharfkantigen Stein gefunden, mit dem er die glitschige Haut durchtrennen konnte. Sein Magen krampfte sich zusammen, während er sich fragte, ob Chloe wohl gegessen hatte und ob sie frieren musste. Wo sie war.
Sie hatten gelobt, sich zu finden, egal wie, egal wo. Vergiss deinen Schwur nicht, Geliebte.
»Willst du ihn auch aufschneiden oder nur anstarren?«, wollte RaEm wissen. Cheftu durchsäbelte den Fisch und filetierte ihn grob, wobei ihm vor Hunger das Wasser im Mund zusammenlief. »Es gibt also Sushi?« Sie hatte sich auf dem Felsen niedergelassen. Plötzlich senkte sich die Nacht herab, begleitet von frischerem Wind und kühleren Temperaturen.
»Was ist Sushi?«
»Roher Fisch.«
»Ungekocht?«
»In Algen gepackt und in kleinen Häppchen zusammen mit Sake serviert.«
Cheftu schaute durch die Dunkelheit zu RaEm hinüber. »Ich dachte, Chloe kommt aus einer angesehenen Familie mit großem Landbesitz.« Er schüttelte den Kopf. »Es muss schrecklich sein, in ihrer Zeit in Armut zu leben.«
RaEm schnaubte wieder. Cheftu konnte sich nicht entsinnen, diese Gewohnheit schon früher an ihr bemerkt zu haben, und von Chloe hatte sie sie keinesfalls übernommen. »Die Armen? Nein, nur die Wohlhabenden können sich Sushi leisten. Sie essen es in dunklen Bars und sprechen dabei über Geschäfte, damit sie das Essen absetzen können.«
Cheftu reichte ihr eine Scheibe schlabbriges, rohes Fleisch. »Dann betrachte das hier als Sushi, diesen Fels als >dunkle Bar< und erkläre mir, was >absetzen< bedeutet.« Er schnitt eine Scheibe für sich selbst ab und biss
Weitere Kostenlose Bücher