Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
Kind war, wurde sogar der Nil umgeleitet, damit der Tempel, den Ramses gebaut hatte, der Abu Simbel, nicht beschädigt wurde.«
Cheftu erstarrte. »Sie haben den Nil umgeleitet?«
»Ja. Sie haben diesen riesigen Tempel genommen, diesen Abu Simbel, und ihn flussaufwärts versetzt.«
»Wohin denn? Und wie?« Er war in Abu Simbel gewesen, einer monströsen Anlage. Wie wollte jemand so etwas bewegen, außer durch die Hand von le bon Dieu?
»Viele Gelder kamen aus aller Welt«, erwiderte RaEm. »Das habe ich im Fernsehen gesehen.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre Worte wirklich in sein
Bewusstsein gedrungen waren. Ahnte sie überhaupt, dass die Erde eine Kugel war? Wusste sie etwas von den vielen Völkern, die den Planeten besiedelten? Sie redete, als hätte sie all ihre Sätze auswendig gelernt. Wie verloren musste sie sich in Chloes schnelllebiger Welt gefühlt haben, wo die Menschen rohen Fisch aßen. »Was genau hast du gesehen?«, hakte Cheftu nach. Sie wusste nicht, wovon sie redete, doch der Gedanke war faszinierend. Den Tempel von Abu Simbel versetzen?
»Sie haben Ramses’ Tempel zerlegt und ihn auf der Klippe über dem See, den sie aus dem Nil gemacht haben, wieder aufgebaut.« Sie lutschte einen Finger ab. »Könnte ich nur in Ramses’ Zeit leben und mich in diesem Tempel lieben und verehren lassen! Stell dir nur vor, wie viel Geschmeide seine Frau hatte; wie viele Sklavinnen, welche Macht.«
Er hätte wissen müssen, dass ihre Begeisterung aus ihrer altbekannten Gier herrührte. Doch er würde sich nicht an ihrer Charakterlosigkeit stören; sie würde ihm nur vorübergehend Gesellschaft leisten.
Chloe würde ihren Schwur halten. Cheftu musste die Augen nach der grünäugigen Frau offen halten, die irgendwann seinen Weg kreuzen würde. »Noch etwas Sushi?« Er bot RaEm den Kopf an.
»Nein.« Sie wich angeekelt zurück. »Du willst mir die Abfälle geben?«
Seufzend warf Cheftu die Fischreste zurück ins Wasser. Nach einer kurzen Pause sprach RaEm gedankenversunken weiter. »Ich glaube, zu Sushi braucht man mehr als nur Algen und rohen Fisch. Eine Avocado.«
»Was ist das denn?«
»Ich weiß nicht, etwas zum Essen. Ich habe es dir doch erklärt: Außerhalb der Sprache kenne ich weder Dinge noch Fakten. Ich weiß nur, wie sie empfunden hat. Sie muss eine sehr gefühlsbeladene Erinnerung an Avocado haben.«
»Chloe hatte starke Gefühle für Avocado?«
»Ich wäre gern eine Mätresse, die von einem mächtigen Mann verehrt und bewundert wird«, lenkte RaEm das Gespräch wieder auf ihre eigene Person. »Ich möchte, dass man sich für alle Zeit an mich erinnert. Weißt du, wie diese Modernen uns verehren? Die sagenhaften Ägypter, sagen sie. Es will ihnen nicht in den Kopf, wie wir die Pyramiden gebaut haben, warum wir die Toten mumifizieren. Sie führen ein eingeengtes, düsteres Leben, und doch sind sie der Meinung, wir seien fasziniert vom Tod.«
Sie bibberte. »Es ist gespenstisch, wie wenig sie wissen, wie unwirklich wir ihnen vorkommen.«
»Glaubst du, für dich war es leichter, sie zu verstehen?«
Sie verstummte, wodurch Cheftu einen Moment lang Zeit zu staunen blieb, dass er mit dieser Frau ein vernünftiges Gespräch führte. Natürlich gab es im Augenblick nichts zu gewinnen und nichts zu schachern. Doch nur, weil sie nichts von den Steinen wusste. Er bekam eine Gänsehaut, wenn er nur daran dachte, dass RaEm über eine solche Macht verfügen könnte.
»Ägypten wird von dem Stamm der Araber beherrscht, die an einen allein lebenden, kinderlosen Gott glauben. In ihren Augen finde ich meine Wurzeln nicht wieder. Es sind Kaufleute und Handwerker ohne eine Spur von Amun-Re in ihrer Seele.«
Cheftu öffnete schon den Mund, um ihr beizupflichten, um ihr darzulegen, wie erstaunt er gewesen war, als er aus dem Frankreich des neunzehnten Jahrhunderts in ebenjenem Volk und jener Kultur gelandet war, die er sein ganzes Leben lang studiert hatte.
»Wenn es in meiner Macht gelegen hätte, hätte ich sie alle hinweggefegt«, sagte sie. »Und ganz neu angefangen. Trotz ihrer Leuchtschriften und ihrer Elektrizität sind sie viel zu gewöhnlich.«
Er war wie vor den Kopf geschlagen. »Es sind Menschen«, widersprach er. »Es ist ein ganzes Volk.«
»Sie hüten lediglich das Land«, belehrte sie ihn. »Vom wahren Ägypten verstehen sie nichts. Wie können sie nur einen einzigen Gott verehren, einen Gott, den sie nicht einmal sehen?«
Sie wusste nicht, was sie da sagte, ermahnte sich Cheftu.
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