Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
hat!«
N’tan sah uns an. Offenbar hatte noch niemand die richtige Antwort genannt. »Was haben unsere Vorväter getan?«
»Wir haben uns ein Bild von Gott gemacht«, sagte Dadua.
N’tan sah den König an. »Ken, wir fertigten ein goldenes Bildnis an und nannten es unseren Gott. Ihm haben wir unsere Rettung, unsere Freiheit zugeschrieben. Wir haben es mit unseren Händen gefertigt.«
Die Künstlerin in mir horchte auf. Das war seit jeher ein interessanter Punkt in der Kunstgeschichte gewesen. Weder Juden noch Moslems ließen Abbildungen von Mensch oder Tier zu. Wieso eigentlich?
Ein paar Atemzüge lang wanderte N’tan, an seinem Bart zupfend, auf und ab. »Wen verehren die Pelesti?«
»Dagon und Astarte.«
»Ken. Und die Amori, wen verehren die?«
Die Männer spuckten auf den Boden. »Sie dienen Molekh.«
»Ken. Und worüber herrscht Dagon?«, fragte der Tzadik.
»Das Meer? Hat er nicht deshalb das Geschlecht eines Fisches?«, schlug jemand vor.
»Vielleicht ist er ein Fisch, um sich vor der Liebe im Stil der Sodomiten zu schützen!« Die Männer grölten vor Lachen, verstummten aber unter N’tans Blick wieder.
Ich merkte, wie ich wütend wurde. Sie machten sich über Dinge lustig, von denen sie keine Ahnung hatten. Aber andererseits, Chloe, ist Dagon nur ein Götzenbild, es gibt ihn nicht wirklich, und er wird tatsächlich als Fisch dargestellt. Wieso sollte man da ernst bleiben? Ich sah zu Cheftu hinüber, der sich ganz und gar auf seinen Papyrus konzentrierte und dessen
Kiel über die Seite flog.
»Und Astarte?«, fragte N’tan weiter.
»Ach! Diese liebreizende Göttin fördert die Liebe«, antwortete der Klingonen-Gibori. »Sie macht die Felder fruchtbar.« Ich entsann mich, dass jemand mir erzählt hatte, er käme aus Hatti. Dort wurde Astarte ebenfalls verehrt. Wie war er hier gelandet?
»Und wenn es eine Trockenheit gibt?«, fragte N’tan. »Wenn der Regen ausbleibt. Was tun die Pelesti und Amori dann?«
»Sie bitten um mehr, sie opfern mehr? Sie versuchen, die Blicke der Götter auf sich zu lenken?«, meinte jemand.
»Ken. Doch herrschen ihre Götter über baYam! Den Regen? Können sie beschließen, weiterzuziehen oder etwas zu unternehmen?« Auf diese Frage hin blieb es erst einmal still.
»Äh, Lo.«
»Und wieso nicht?«
»Sie sind aus Stein«, erklärte jemand im Hintergrund.
N’tan stand mit geschlossenen Augen vor uns. Er sah aus wie ein Grundschullehrer, dessen Schüler nicht davon abzubringen waren, dass die Geschenke vom Weihnachtsmann gebracht wurden. Wir wollten es einfach nicht begreifen. Selbst ich verstand ihn nicht, trotz oder gerade wegen meiner neuzeitlichen Perspektive.
»Ken. Aus Stein«, sagte er. »Und was ist dann Shaday?«
Diesmal blieb es noch länger still. Was wollte er von uns hören? Aus welchem Stoff Gott bestand? Was für eine Frage war das? Ich sah zu Cheftu hinüber. Er sah N’tan mit leicht gerunzelter Stirn an.
»Unsichtbar«, antwortete Dadua schließlich.
Allmählich begriff ich, warum er König war; er wusste auf alles eine Antwort.
»Und wieso ist es uns verboten, ein Bildnis von Ihm zu machen?«, wollte N’tan jetzt wissen.
»Weil wir nicht wissen, wie Er aussieht?«, fragte eine der weiblichen Giborim zurück.
»Lo. Weil wir nur einen Teil von Ihm darstellen könnten. Nicht alles, weshalb das Bild eine Lüge wäre«, erläuterte N’tan.
»Wieso?«, fragte Cheftu.
»Weil es unvollständig wäre. Was ist Shaday?«
Nun, wenn er unsichtbar war, dann war N’tan möglicherweise nicht auf der Suche nach einem Aufsatzthema.
»Der Verteidiger Y’sraels, Jahwe, unser Kriegsgott«, antwortete Avgay’el in ihrer sanften Stimme. Sie wirkte schwach und zerbrechlich, doch sie war höchst intelligent und offenbar oft im Einklang mit Gott.
» Nachon. Wie würden wir uns davon ein Bildnis machen?«, fragte N’tan.
Er wollte, dass wir ein Götzenbild machten? Gott in einem Bild darstellten? Hatte man schon so früh mit psychologischen Provokativfragen gearbeitet?
»Äh, eine Hand?«, war aus dem Hintergrund zu hören.
N’tan zuckte mit den Achseln. »Dann verehren wir fortan eine Steinhand?«
Sie lachten, doch es war ein nervöses, verunsichertes Lachen. Allmählich wurde klar, worauf er hinauswollte.
»Wir könnten Ihn als Herrn über Tziyon darstellen?«, schlug jemand vor.
»Wie?«
Ein jüngerer Gibori stand auf. Er zitterte so stark, dass seine Schläfenlocken zu tanzen schienen. »Wir könnten Ihn als Miniatur Har Mori’as
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