Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
wenn du vorziehst, es nicht zu tun, werde ich meine ebenfalls für mich behalten.«
Sie spürte seinen Blick auf ihrem Gesicht, ehe er schließlich sprach: »Wir brauchen uns gegenseitig als Werkzeug. Es gibt keinen Grund für Vertraulichkeiten.«
Das wird dir noch Leid tun, dachte sie. Ich könnte es dir so einfach machen, an deinen Geliebten heranzukommen. »Wie du meinst«, sagte sie.
»Sollen wir uns jetzt Daduas Schatzkammer ansehen?«
»Wir sollen hören, nicht schauen«, fuhr N’tan fort. »So soll unser Leben sein.«
Stimmte das? Ich schaute auf Cheftu, weil ich seine Reaktion sehen wollte. Mit starrer Miene schrieb er die Worte des Tzadik nieder.
N’tan hatte uns in Bann geschlagen. »Wo haben der erste
Mann und die erste Frau gelebt?«, fragte er.
»In einem Garten.«
»Ken. Und was geschah am Abend eines jeden Tages?«
»Da wandelte Shaday mit ihnen und sprach zu ihnen.«
» Ken. Eure Eltern haben euch die Worte der Weisen gut gelehrt. Ach, und wie sah Shaday den Weisen zufolge aus?«, fragte N’tan.
Wir schwiegen. Nirgendwo in der Bibel gab es eine Beschreibung Gottes, da war ich ziemlich sicher.
»Und was wissen wir über Seine Worte?«, fragte N’tan wenig später.
»Mit Seinen Worten erschuf er die Welt. Er trennte das Licht vom Dunkel, das Meer von der Luft«, antwortete Avgay’el.
» Nachon. Mit Seinen Worten.« N’tan ließ das eine Weile einwirken. Ich sah nicht mehr auf diese unwissenden Soldaten herab; auch ich wusste nicht, worauf er hinauswollte. »Wie haben uns die Weisen diese Worte gelehrt? Wie haben sie die Schöpfungsgeschichte weitergegeben?«
Alle schwiegen.
»Diese Geschichten wurden nur an jene weitergegeben, die unsere Buchstaben kennen, die lesen können. Und warum?«
»Weil die Buchstaben und Worte heilig sind?«, rief jemand, wenn auch zaghaft, von hinten.
» Ken. Darum werden diese Geschichten aus dem Gedächtnis von einer Generation an die nächste weitergegeben. Und zwar Wort für Wort, Buchstabe für Buchstabe, damit sich nicht das Geringste daran ändert. Buchstabe für Buchstabe.« Er streckte die Arme in die Luft und rezitierte: »Bet, raish, alef, shin, yud, taf. Beresheth.«
Am Anfang ... Waren all diese Geschichten tatsächlich so weitergegeben worden?
Einmal hatte im Philosophieunterricht der Lehrer uns in einer Reihe aufgestellt und dem Ersten in der Reihe etwas ins Ohr geflüstert. Wir hatten diesen Satz von einem zum anderen weitergeflüstert, bis ans Ende der Reihe. Dann hatte der letzte Student laut vorgetragen, was er gehört hatte.
Der Satz hatte sich nicht stark verändert, doch er hatte sich eindeutig gewandelt. Dies, hatte der Lehrer uns erklärt, sei nur ein Beispiel, weshalb nichts, was von einem Menschen geschrieben wurde, unfehlbar sein könne. Seit jenem Tag hatte ich nicht mehr an die Bibel geglaubt. Ich meine, es waren ein paar tausend Jahre vergangen. Wenn wir innerhalb von fünf Minuten und mit fünfzehn Schülern einen Satz versauen konnten, wer wollte dann noch behaupten, er wisse, was ursprünglich in der Bibel gestanden hatte?
Genau darüber hatte ich mich mit meiner Mutter gestritten, als ich die Schriftrollen aus dem Toten Meer gesehen hatte. Die Phraseologie war die Gleiche wie in der ersten, ältesten Version der Bibel. Meine Mutter wies mich darauf hin, doch ich reagierte spöttisch. Wer konnte das schon so genau wissen?, fragte ich.
Es erübrigt sich zu sagen, dass ich jetzt beschämt an meinen Sandalen kaute! Wenn diese ersten Bücher Buchstabe für Buchstabe weitergegeben worden waren, dann waren sie keiner kulturellen Konnotation ausgesetzt gewesen. Dann waren keine Worte ausgetauscht worden, zum Beispiel »Hügel« gegen »Berg«, was letzten Endes zu einer ganz anderen Aussage führen konnte. Dadurch wären diese Geschichten, zumindest in der hebräischen Version - ich schluckte hörbar -, im Grunde unfehlbar. N’tan stand schweigend und tiefernst vor uns.
Ausnahmsweise wirkte er einmal wirklich wie ein Prophet Gottes. »Wir sollen uns kein Bildnis von Shaday machen, weil wir Seine Worte hören, Seinem Wesen vertrauen und auf unseren Glauben bauen sollen. Nicht unseren Augen, nicht den Werken unserer Hände. Wir sind nach Seinem Ebenbild erschaffen. Nicht Er nach unserem.«
Er erhob seine Hände über die Priester, Frauen, Konkubinen und Giborim und dröhnte: »Möge el ha Shaday euch segnen
und behüten. Möge Er Sein Angesicht über euch leuchten lassen und euch gnädig sein. Sela.«
Wir antworteten
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