Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
besiedelte das Antlitz der Erde. Nun gab es auch eine Rasse von Riesen, Ana-kim: Himmelssöhne, die sich Menschentöchter erkoren. Ein Heldengeschlecht zog durch die Welt, Männer und Frauen von sagenhaftem Ruhm.«
Ich wand mich auf meinem Strohhaufen und zerrte mein Wollknäuel auseinander. Bedeutete dies, dass die Bibel Raum für diese mythologischen Wesen ließ? War es überhaupt dieselbe Bibel, die ich besessen hatte? Irgendwie war ich sicher, dass ich damals besser aufgepasst hätte, wenn darin etwas über ein Picknick mit Gott oder über Riesen und Zaubergestalten gestanden hätte.
Stattdessen war mir die Bibel vorgekommen wie eine Ansammlung von Moralvorschriften und Zeugungslisten.
Ich sah mich um, von der stillenden Frau auf die zwei Ehefrauen in anderen Umständen und die vier Konkubinen, die sich sämtlich in verschiedenen Stadien der Schwangerschaft befanden: das mit den Zeugungslisten traf allerdings schon zu.
Avgay’el drehte ihre Krempelhölzer um, hielt inne und sah uns der Reihe nach an. »So höret: Yahwe blickte auf den Erd-ling, der zu einem Monster herangewachsen war. Denn in seinem Dichten erschuf er immer nur Böses, aus dem sich böses Trachten ergab. Da wurde Yahwe das Herz schwer wie einem Vater, dessen Sohn ein fruchtloses Leben führt. >Ich will die Erdlinge vom Angesicht des Landes tilgenc, sprach er. >Mensch und Tier, Gewürm und Vögel; denn es reut mich, dass ich sie gemacht habe.<«
Die Frauen sahen sie voller Trauer über Gottes Pein an. Ich versuchte angestrengt, ihre Worte nicht in irgendeine mir bekannte Geschichte zu pressen. Ich wollte ihr einfach nur zuhören und die Situation genießen: einen Regentag im Harem, die Kameradschaft gemeinsam arbeitender und in Bann geschlagener Frauen.
»Doch Noach der Fromme erwärmte Yahwes Herz.«
Natürlich Noah. Wieso sollte mich das überraschen? Bei Regen lag der Gedanke an eine Arche nahe. Ich hörte sie sagen, dass Gott Noach befahl, die Arche zu besteigen, weil er ein Gerechter unter den Völkern sei. »Nimm dir sieben mal sieben
- das Männchen und sein Weibchen - von jedem reinen Tier.«
Sieben mal sieben? Und was war mit zwei mal zwei?
»Von den unreinen Tieren nimm dir je ein Männchen und sein Weibchen. Sieben mal sieben Vögel, das Männchen und sein Weibchen. Sie verteilen den Samen des Lebens über das Angesicht der Erde.«
»Ich wünschte, er hätte die Schlangen weggelassen«, meinte Hag’it. »Sie hätten ruhig zusammen mit den unreinen Menschen ertrinken können. Mir hätten sie nicht gefehlt.« Die übrigen Frauen lachten. Avgay’el lächelte und schaute gleich wieder auf ihre Krempelhölzer.
»Nun höret: Yahwe sagte, dass er in sieben Tagen Wasser auf die Erde regnen lassen würde, vierzig Tage und vierzig Nächte lang ohne Unterlass. Auf diese Weise würde er alles Lebendige, das er aus Lehm gemacht hatte, vom Erdboden tilgen. Noach, sein Weib, seine Söhne und ihre Weiber gingen in die Arche, so wie Yahwe es ihnen gebot.
Nun sehet: Sieben Tage vergingen, dann regnete das Wasser vierzig Tage und Nächte lang. Yahwe verschloss die Tür hinter Noach. Das Wasser hob die Arche an und ließ sie vierzig Tage über dem Land schwimmen. Das Wasser nahm überhand und wusch das Angesicht der Erde rein. Die Arche schwamm über das Angesicht der Erde hinweg. Alle hohen Berge waren von Wasser bedeckt.«
Ich musste an meine Flüge über die Schweizer Alpen denken, deren schneebedeckte Gipfel alle Wolken durchstießen und selbst aus zehntausend Meter Höhe zu erkennen waren. Und diese Höhen waren angeblich von Wasser bedeckt gewesen? Das erschien lachhaft, doch mein skeptischer Ansatzhebel wurde allmählich rostig. Ich hatte miterlebt, dass Gottes Taten meine Fähigkeit zu verstehen und zu glauben mit Leichtigkeit übersteigen konnten. Und änderte letztendlich mein Glaube oder Unglaube irgendetwas?
Avgay’el fuhr fort: »Die Wasser stiegen fünfzehn Ellen über die bedeckten Berge. Alles, was Nefesh hatte, verschwand vom Land. Alles, was gelaufen oder geflogen oder gekreucht war; alles war ausgelöscht. Nur Noach und was mit ihm in der Arche war, blieb übrig.
Nun wurde dem Regen vom Himmel gewehrt. Da verliefen sich die Wasser auf der Erde. Nun sehet: Das Fenster, das Noach gemacht hatte, wird geöffnet. Er lässt eine Taube ausfliegen, um zu erfahren, ob die Wasser sich verlaufen hätten auf dem Land.«
Wie viele Kunstwerke mit diesem Motiv hatte ich schon gesehen? Von der Renaissance angefangen bis in die
Weitere Kostenlose Bücher