Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
Moderne: Tierköpfe, die aus den Fenstern der Arche ragen, Noah, der die Taube fliegen lässt und auf ihre Rückkehr wartet.
Doch diesmal sah ich noch etwas, das mir nie zuvor aufgefallen war. Die grauenvolle Einsamkeit, die einzigen Menschen auf dem Planeten zu sein; die alles überwältigende Angst vor einem Gott, der - in gewisser Weise - selbstkritisch und flexibel genug war, seine Schöpfung zu zerstören, weil sie seinen eigenen Maßstäben nicht genügte. Als wären all diese Menschen und Tiere nichts weiter als Tonschüsseln; getöpfert, glasiert und gebrannt, doch so missgestaltet, dass sie weder zu retten noch zu gebrauchen waren. Und deshalb kaputtgemacht werden mussten.
Doch zum ersten Mal verstand ich Gott. Ich konnte seinen Blickwinkel verstehen. Gott als Schöpfer - der keinerlei Gefallen an seinem Werk fand. Wie oft hatte ich eine Leinwand übermalt? Eine Skulptur weggeschmissen? Etwas Getöpfertes wieder eingestampft?
Durch mein Grübeln verpasste ich die Stelle, an der die Taube ausbleibt, doch diesen Teil der Geschichte kannte ich bereits. Avgay’el nahm einen Schluck Wein, um ihre Stimme zu glätten, bevor sie fortfuhr: »Nun baute Noach Yahwe einen Altar und nahm von allen reinen Tieren, den reinen Vögeln und opferte sie: als Brandopfer auf dem Altar.
Und Yahwes Herz wurde besänftigt; denn seine Nase roch den lieblichen Duft. Er dachte: >lch will hinfort nicht mehr über die Erde richten um der Taten der Erdlinge willen. Wenn sie die Gabe meiner Schöpfungskraft zu schändlichen Gedanken missbrauchen, werden böse Taten entspringen. Dennoch will ich hinfort nie wieder schlagen, alles was da liebt, nur um ihn zu treffen.«
Ich hörte die erste Kinderstimme nach der Mutter rufen. Avgay’el kam eilig zum Schluss. »Dies waren die Söhne Noachs, die aus der Arche gingen. Shem, Harn und Yafat. Von diesen drei Söhnen her kommen alle Menschen auf Erden.«
Wir hatten unsere Wollfilze in lange Matten gekrempelt, aus denen dann Fäden gesponnen würden. Gerade als wir die Krempelhölzer zurückgaben, sah ich die Transuse hereintaumeln. Sie blutete, und ihr Gesicht war mit blauen Flecken übersät.
Mir wurde schlecht, denn mir schwante Böses. »‘Sheva!« Ich lief zu ihr hin. »‘Sheva, was ist passiert?«
Sie antwortete nicht, sondern starrte in die Ferne. Shana packte sie am Arm und rüttelte sie: »Du! ‘Sheva«, doch auch das führte zu nichts. Avgay’el strich ihr über das Haar und bemerkte dabei einen Biss auf ihrem Hals.
Einen großen Biss. O nein, nein, nein, dachte ich.
»Hebt ihren Rock hoch«, befahl Shana.
Auch ich half dabei. Das Mädchen war geschändet worden. Im Schlamm überwältigt. Die Mienen der Frauen blieben ernst, doch keine weinte. Avgay’el und Shana sahen sich an.
»Trag sie ins Stroh, Klo-ee«, sagte Avgay’el. »Shana wird sie untersuchen.«
Ich hob sie hoch und schob meinen Arm unter ihre Knie. Sie war so zerbrechlich und wie im Koma. Sie war vergewaltigt worden? Das erschien mir unvorstellbar. Diese Menschen vergewaltigten nicht einmal die Frauen, wenn sie eine Stadt plünderten! Ich legte sie auf dem Stroh ab, während die anderen Frauen ihr erst Wein und dann ein paar Lampen brachten, damit Shana besser sehen konnte. Hag’it diente der Transuse als Kopfkissen, sie bettete den Kopf des Mädchens in ihrem Schoß und strich ihr das mondstrahlfarbene Haar aus dem Gesicht. Ahino’am brachte erwärmte Lumpen, mit denen wir ganz vorsichtig den Schlamm und das Blut abtupften.
Wir zogen der bibbernden und zähneklappernden ‘ Sheva das Kleid aus und wickelten sie dann in Tierfelle. Shana untersuchte das Mädchen, während Avgay’el eine Lampe über ihre Schulter hielt, um ihr zu leuchten. Ich schaute nicht zu, dennoch fiel mir auf, dass ihr eben erst die Schamhaare wuchsen. Sie war noch ein Kind, ganz gleich, was ihr Körper verkündete.
Ihre Haut war von blauen Flecken gezeichnet; es war leicht nachzuvollziehen, was passiert war. Er hatte sie mit dem Unterarm knapp über der Kehle auf den Boden gepresst. Sobald sie sich bewegte, drückte er ihr die Luft ab. Ein dickes Knie hatte sich in ihren weichen Bauch gedrückt. Was für ein Monster war das gewesen? Ihre Schenkel waren auseinander gezerrt und festgehalten worden. Wir hätten praktisch Fingerabdrücke von ihrem Vergewaltiger nehmen können!
Shanas kleine Hände huschten über den Leib. Daduas Schwester schüttelte traurig den Kopf, und in ihren Augen glänzten Tränen. »Ihre Jungfernschaft ist
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