Frank, Suzanne - Die Hüterin von Jericho
der Hand über die Nase. »Mein Gott, was würde ich für ein Tempo geben!«
Er wusste nicht, was sie mit »Tempo« meinte, doch er besaß ein provisorisches Taschentuch. Sie dankte ihm und schnäuzte sich.
»Wir sind hier, doch verändert hat sich dadurch nichts.
Wahrscheinlich haben wir die Menschheitsgeschichte total durcheinander gebracht, weil wir die Menschen, die andernfalls den ganzen Kram erledigt hätten, daran gehindert haben.«
»Kram?«, wiederholt er verwirrt. »Geliebte, du musst deutlich sprechen, wenn du Englisch redest. Was für einen Kram?«
»Jerusalem. Die Lade. Bathseba.«
Sie hatte es also schon gehört. Uri’a der Hethiter würde Bathseba heiraten. Irgendwann würde, so stand es in der Bibel, David sie beim Baden beobachten und sie in einer Nacht der Leidenschaft schwängern. Daraufhin würde er alles versuchen, um Uri’a zu seinem eigenen Weib ins Bett zu locken, doch vergeblich.
Schließlich würde David dafür sorgen, dass Yoav Uri’a in der Schlacht umkommen ließ.
Der König würde seine heimliche Geliebte heiraten.
N’tan, der Tzadik, würde die Geschichte in ein Gleichnis kleiden und dem König erzählen. David würde toben und erklären, dass der Mann in der Geschichte eine Strafe verdient hätte. Daraufhin würde N’tan die berühmten Worte sprechen: »Du bist jener Mann.«
Bathsebas und Davids erstes Kind würde sterben. Sie würden ein zweites bekommen, Salomon genannt.
Alles geschah genauso, wie in der Heiligen Schrift geschrieben stand. Nicht in der Weise, wie Cheftu sich diese biblischen Geschichten ausgemalt hatte, dennoch erfüllten sie sich Wort für Wort.
Genau jenen Worten entsprechend, die ein ägyptischer Schreiber am Hof der Israeliten aufgezeichnet hatte.
»Was für ein >Kram< ist das?«
»Wieso sind wir hier?« Sie sah ihn an. »Diese Geschichte findet doch bereits statt. Man hätte uns gar nicht gebraucht. Das war absolut sinnlos!«
Er sah zum Himmel auf und fragte sich, was le bon Dieu, falls er tatsächlich im Himmel wohnte, wohl von ihrem Kommentar hielt. »Sollen wir mit Jerusalem anfangen?«, fragte er.
Chloe zuckte mit den Achseln. »Klar.« Sie schnäuzte sich noch mal. »Es wurde eingenommen. Das wissen wir.«
»Du weißt das aus der Geschichte?«, fragte er.
Sie nickte.
»Woher willst du wissen, dass nicht du der Schlüssel zu dieser Invasion warst?«
»Jerusalem wurde von David eingenommen. Willst du etwa behaupten, ich hätte von jeher in dieser Geschichte eine Rolle gespielt?« Ihre Stimme klang beinahe hysterisch.
Es war eine Schwindel erregende Vorstellung, das musste er zugeben. Doch andererseits ergab sie in einer Art Zirkelschluss durchaus Sinn. »Pass auf: Du sprichst von Bestimmung, von einem Weg, den Gott dir zugedacht hat.«
»Wenn du Hebräisch sprichst, klingst du wie Avgay’el«, bemerkte sie.
Er sah sie kurz an und sprach dann weiter. »Dann sprichst du von der Geschichte als einem vorgezeichneten Weg.« Er zuckte mit den Achseln. »Daraus folgt, dass du möglicherweise von Anfang an ein Teil der Geschichte warst; vielleicht ist es deine Bestimmung, an der Invasion teilzunehmen.«
»Und deine, ein Verfasser der Bibel zu sein?«
Wenn die eine Annahme zutraf, dann konnte die zweite ebenso zutreffen, begriff Cheftu. Die Geschichte wurde also durch die Zukunft bestimmt? Das entsprach nicht der griechi-schen, linearen Denkweise und damit dem europäischen oder, wie er vermutete, amerikanischen Gedankengut. Zum Ausgleich folgte diese Argumentation geradezu byzantinischen Windungen, einem Vermächtnis der Labyrinthe.
Sie bewies Fantasie. Es war eine kreative Art, die Geschichte zu verweben. War es möglich, dass noch viel mehr Menschen von einer Zeit in eine andere reisten? Reisten Menschen aus Chloes Zukunft in eine Vergangenheit jenseits jener, die er und Chloe kannten?
Vielleicht waren sie gar nicht so einzigartig, wie er geglaubt hatte?
»Wenn das, was du da sagst, auch nur annähernd der Wahrheit entspricht, dann wäre, wenn ich nicht hier wäre ...«
Sie verstummte und schüttelte den Kopf. Der Regen, der vorübergehend nachgelassen hatte, setzte mit voller Wucht wieder ein. »Ein bestürzender Gedanke: kein Jerusalem für die Juden? Oder Christen? Oder Moslems?« Sie murmelte vor sich hin. »Keine Nahostkonflikte, aber auch kein Monotheismus?« Sie sah ihn an. »Wenn es kein Jerusalem gäbe, wo würde dann der Tempel erbaut? Wo würde Christus gekreuzigt? Wo würde Mohammed auf die Erde
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