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Frankenstein

Frankenstein

Titel: Frankenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Wollstonecraft Shelley
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das sein Blut vergoß, um das Heilige Grab aus den Händen der Ungläubigen zu befreien.
    Kein Mensch kann eine glücklichere Kindheit verlebt haben als ich. Meine Eltern waren vom wahren Geist der Güte und Nachsicht erfüllt. Wir spürten, daß sie nicht Tyrannen waren, die je nach Laune unser Los bestimmten, sondern die Urheber und Schöpfer all der vielen Freuden, die wir genossen. Wenn ich mit anderen Familien zusammenkam; erkannte ich deutlich, wie ungewöhnlich gut ich es getroffen hatte, und Dankbarkeit förderte die Entwicklung der Sohnesliebe.
    Mein Temperament war manchmal hitzig, meine Leidenschaft ungestüm; doch irgendein Gesetz in meiner Natur sorgte dafür, daß sie sich nicht auf kindische Interessen richtete, sondern auf den glühenden Wunsch zu lernen, und zwar nicht alle Dinge unterschiedslos durcheinander zu lernen. Ich gestehe, daß mich weder die Struktur der Sprachen noch das Wesen der Regierungsformen noch die Politik der verschiedenen Staaten zu fesseln vermochten. Es waren die Geheimnisse des Himmels und der Erde, die ich zu erfahren trachtete; und ob es die äußere Beschaffenheit der Dinge war oder das innere Wesen der Natur und die rätselhafte Seele des Menschen, die mich beschäftigten, richteten sich meine Forschungen stets auf die metaphysischen oder, im höchsten Wortsinn, die physischen Geheimnisse der Welt.
    Inzwischen beschäftigte sich Clerval sozusagen mit den moralischen Zusammenhängen der Dinge. Die geschäftige Bühne des Lebens, die Tugenden der Helden und die Taten der Menschen waren sein Gebiet. Und seine Hoffnung und sein Traum war es, einer von denen zu werden, deren Namen in der Geschichte als beherzte und wagemutige Wohltäter der Menschheit verzeichnet stehen. Elisabeths fromme Seele leuchtete wie eine Altarlampe in unserem friedlichen Heim. Ihre innige Anteilnahme gehörte uns; ihr Lächeln, ihre sanfte Stimme, der holde Blick ihrer Himmelsaugen waren immer da, uns zu segnen und zu begeistern. Sie war der lebendige Geist der Liebe, gewinnend und beschwichtigend: in meinem Studierzimmer hätte ich mürrisch werden können und infolge der Hitzigkeit meines Charakters schroff, hätte nicht sie mich gedämpft, so daß ich mich ihrer Sanftmut anglich. Und Clerval – hätte überhaupt irgendein Übel Clervals edle Seele beflecken können? – und doch wäre er in seiner Leidenschaft für abenteuerliche Taten vielleicht nicht so vollkommen menschenfreundlich geblieben, so rücksichtsvoll in seiner Großmut, so voller Güte und Zartgefühl, hätte sie ihm nicht die wahre Schönheit der Nächstenliebe offenbart und die guten Taten zum Zweck und Ziel seines hochfliegenden Ehrgeizes gemacht.
    Ich empfinde tiefes Glück, wenn ich bei den Erinnerungen der Kindheit verweile, bevor das Verhängnis mir das Gemüt vergiftet und dessen leuchtende Visionen allgemein nutzbringenden Wirkens in düstere und enge Gedanken um das Ich verwandelt hatte. Überdies, indem ich das Bild meiner Kindheit zeichne, führe ich zugleich jene Geschehnisse an, die mit unmerklichen Schritten zu meiner späteren Geschichte des Jammers führten: denn wenn ich mir selbst über die Entstehung jener Raserei Rechenschaft ablege, die später mein Schicksal beherrschte, stelle ich fest, daß sie wie ein Gebirgsbach aus geringfügigen und fast vergessenen Quellen entspringt; doch nach und nach anschwellend, wurde sie zu dem reißenden Strom, der in seinem Lauf alle meine Hoffnungen und Freuden hinweggespült hat.
    Die Naturphilosophie ist der Geist, der mein Schicksal bestimmt hat; ich möchte deshalb in dieser Erzählung die Tatsachen aufzählen, die zu meiner Vorliebe für diese Wissenschaft geführt haben. Als ich dreizehn Jahre alt war, machten wir alle einen Ausflug zu den Bädern bei Thonon. Das rauhe Wetter zwang uns, einen Tag lang im Gasthof zu bleiben. In diesem Haus geriet ich zufällig an einen Band der Werke des Cornelius Agrippa. Lustlos schlug ich ihn auf; die Theorie, die er darzulegen versucht, und die erstaunlichen Tatsachen, von denen er berichtet, ließen dieses Gefühl bald in Begeisterung umschlagen. In meinem Geist schien ein neues Licht aufzugehen, und unter Freudensprüngen erzählte ich meinem Vater von meiner Entdeckung. Mein Vater sah flüchtig auf das Titelblatt meines Buches und sagte: »Aha! Cornelius Agrippa! Mein lieber Viktor, verschwende bloß nicht deine Zeit darauf; es ist leeres Gewäsch.«
    Hätte sich mein Vater statt dieser Bemerkung die Mühe gemacht, mir zu erklären,

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