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Frankenstein

Frankenstein

Titel: Frankenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Wollstonecraft Shelley
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du mußt bei meinen jüngeren Kindern meine Stelle einnehmen. Ach, ich beklage, daß ich von euch genommen werde! Ich war so glücklich und wurde so geliebt, ist es da nicht schwer, euch alle zu verlassen? Doch diese Gedanken kommen mir nicht zu. Ich will mir Mühe geben, mich freudig in den Tod zu fügen, und will mich der Hoffnung hingeben, euch in einer anderen Welt wiederzusehen.«
    Sie starb friedlich, und ihr Antlitz drückte noch im Tode Liebe aus. Ich brauche die Gefühle derer nicht zu beschreiben, deren liebste Bindungen dieses unwiderruflichste Unglück zerreißt: die Leere, die in die Seele einzieht, und die Verzweiflung, die sich auf den Zügen abzeichnet. Es dauert so lange, bis der Verstand es zu fassen vermag, daß sie, die wir täglich sahen und deren Leben geradezu ein Teil des unseren schien, für immer dahingegangen ist – daß das Leuchten eines geliebten Auges erloschen sein kann und der Klang der so vertrauten Stimme verstummt ist und nie mehr an ein Ohr zu dringen vermag, dem er so lieb geworden war. Das sind die Gedanken der ersten Tage, doch wenn der Lauf der Zeit die Wirklichkeit des Unglücks beweist, dann beginnt die wahre Bitterkeit der Trauer. Doch wem hat diese rauhe Hand nicht schon einen lieben Menschen entrissen? Und warum soll ich einen Kummer beschreiben, den alle empfunden haben und empfinden müssen? Schließlich kommt die Zeit, da man sich der Trauer eher bereitwillig hingibt als ihr notwendig unterliegt. Und das Lächeln, das auf die Lippen tritt, sieht man vielleicht als frevelhaft an, wischt es aber nicht fort. Meine Mutter war tot, doch wir hatten noch Pflichten zu erfüllen. Wir müssen gemeinsam mit den übrigen unseren Weg fortsetzen und uns glücklich schätzen lernen, solange uns noch ein Mensch bleibt, den der Schnitter nicht hinweggerafft hat.
    Meine Abreise nach Ingolstadt, durch diese Ereignisse aufgeschoben, wurde jetzt erneut beschlossen. Ich erhielt von meinem Vater eine Gnadenfrist von mehreren Wochen. Es erschien mir wie eine Entweihung, so bald die dem Tod verwandte Ruhe des Trauerhauses zu verlassen und mich mitten ins Leben zu stürzen. Ich hatte zum ersten Mal Leid erfahren, doch es beunruhigte mich zutiefst. Ich mochte jene, die mir noch blieben, nicht aus den Augen lassen. Vor allem wollte ich mich selbst davon überzeugen, daß meine liebliche Elisabeth sich einigermaßen getröstet hatte.
    Sie verbarg freilich ihre Trauer und gab sich Mühe, unser aller Trösterin zu sein. Sie blickte standhaft ins Leben und nahm seine Pflichten mit Mut und Diensteifer auf sich. Sie widmete sich denen, die man sie Onkel und Vettern zu nennen gelehrt hatte. Nie war sie so bezaubernd wie in dieser Zeit, als sie zum Sonnenschein ihres Lächelns zurückfand und ihn an uns verströmte. Unter dem Bemühen, uns das Leid vergessen zu lassen, vergaß sie sogar ihren eigenen Kummer.
    Schließlich kam der Tag meiner Abreise. Clerval verbrachte den letzten Abend bei uns. Er hatte seinen Vater zu überreden versucht, ihn mit mir zusammen studieren zu lassen, doch vergeblich. Sein Vater war ein engstirniger Kaufmann und sah in den hochfliegenden Plänen und dem Ehrgeiz seines Sohnes nichts als Müßiggang und Ruin. Henri ging das Mißgeschick sehr nahe, daß ihm eine umfassende Bildung verwehrt wurde. Er sagte wenig, doch als er sprach, las ich in seinem flammenden Auge und seinem lebhaften Blick eine unterdrückte, doch feste Entschlossenheit, sich nicht an den erbärmlichen Kleinkram des Geschäftslebens anketten zu lassen.
    Wir saßen bis spät beisammen. Wir konnten uns nicht voneinander losreißen und uns nicht überwinden, das Wort »Lebewohl!« auszusprechen. Es wurde ausgesprochen; und unter dem Vorwand, schlafen zu gehen, zogen wir uns zurück, wobei jeder sich einbildete, der andere lasse sich täuschen. Doch als ich bei Tagesanbruch zur Kutsche hinunterging, die mich fortbringen sollte, waren sie alle da – mein Vater, um mir noch einmal seinen Segen zu geben, Clerval, um mir noch einmal die Hand zu drücken, meine Elisabeth, um ihre dringende Bitte zu wiederholen, ihr recht oft zu schreiben, und ihrem Spielgefährten und Freund die letzten Aufmerksamkeiten zu erweisen, wie nur eine Frau es kann.
    Ich warf mich in die leichte Reisekutsche, die mich fortbringen sollte, und gab mich den schwermütigsten Gedanken hin. Ich; der allezeit von liebreichen Gefährten umgeben gewesen war, die einander ständig Freude zu machen suchten, ich war jetzt allein. An der Universität,

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