Frankenstein
daß man die Lehren des Agrippa bereits gänzlich verworfen und ein modernes System der Wissenschaft eingeführt habe, das viel größere Kraft besitze als das alte, weil das letztere auf Hirngespinsten beruhe, das erstere aber real und anwendbar sei – in solchem Fall hätte ich Agrippa bestimmt beiseite gelegt und meine immerhin angeregte Phantasie damit befriedigt, mit noch größerem Eifer an meinen Lernstoff zu gehen. Es ist sogar möglich, daß mein Gedankengang nie den verhängnisvollen Anstoß erhalten hätte, der mich ins Verderben führte. Doch der flüchtige Blick, den mein Vater auf das Buch geworfen hatte, überzeugte mich keineswegs, daß ihm dessen Inhalt bekannt war; und ich las mit größter Gier weiter.
Als ich heimkam, war es meine erste Sorge, mir sämtliche Werke dieses Autors zu beschaffen und später die des Paracelsus und Albertus Magnus. Ich las und studierte begeistert die ausschweifenden Phantasien dieser Autoren. Sie erschienen mir wie Schätze, die außer mir nur wenigen bekannt seien. Ich habe erzählt, daß ich schon immer von dem glühenden Verlangen erfüllt war, in die Geheimnisse der Natur einzudringen. Trotz der intensiven Bemühungen und der wunderbaren Entdeckungen der modernen Wissenschaftler blieb ich bei meinen Studien immer unzufrieden und unbefriedigt. Sir Isaac Newton soll versichert haben, er fühle sich wie ein Kind, das am Rande des gewaltigen, und unerforschten Ozeans der Wahrheit Muscheln aufliest. Diejenigen seiner Nachfolger in allen Zweigen der Naturwissenschaft, die ich kennengelernt hatte, erschienen schon meinem kindlichen Begriff wie Anfänger, die sich derselben Beschäftigung widmeten.
Der unwissende Bauer nahm um sich her die Elemente wahr und kannte ihre praktischen Anwendungen. Der gelehrteste Wissenschaftler wußte wenig mehr. Er hatte das Antlitz der Natur teilweise entschleiert, doch ihre unsterblichen Züge blieben immer noch ein Wunder und ein Rätsel. Er mochte sezieren, zergliedern und Namen geben; doch, ganz zu schweigen von der letzten Ursache, waren ihm auch die Ursachen zweiten oder dritten Grades gänzlich unbekannt. Ich hatte auf die Schanzen und Hindernisse geblickt, die die Menschheit am Eindringen in die Festung der Natur zu hindern schienen, und voreilig und ahnungslos hatte ich darüber gemurrt.
Doch hier gab es Bücher, und hier gab es Menschen, die tiefer eingedrungen waren und mehr wußten. Alles, was sie behaupteten, glaubte ich ihnen aufs Wort und wurde ihr Schüler. Es wirkt vielleicht seltsam, daß so etwas im achtzehnten Jahrhundert geschah; doch während ich dem gewöhnlichen Bildungsgang der Genfer Schulen folgte, war ich hinsichtlich meiner Lieblingsfächer in großem Maße Autodidakt. Mein Vater hatte keine wissenschaftlichen Neigungen, und so blieb ich mir allein überlassen, mich zugleich mit der Blindheit eines Kindes und dem Wissensdurst eines Studenten herumzuschlagen. Unter der Führung meiner neuen Lehrer machte ich mich mit größtem Fleiß auf die Suche nach dem Stein der Weisen und dem Lebenselixier; bald jedoch widmete ich letzterem meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Der Reichtum blieb ein untergeordnetes Ziel; doch welchen Ruhm würde die Entdeckung begleiten, wenn es mir gelänge, die Krankheit aus dem menschlichen Körper zu verbannen und ihn gegen jede Todesart außer der gewaltsamen zu feien!
Das waren nicht etwa meine einzigen Träume. Die Beschwörung von Geistern und Teufeln war eine Verheißung, mit der meine Lieblingsautoren freigebig umgingen, und nach deren Erfüllung ich am begierigsten strebte; und wenn meine Zaubersprüche stets fruchtlos blieben, schrieb ich den Mißerfolg eher meiner eigenen Unerfahrenheit und Ungeschicklichkeit zu als mangelnder Fähigkeit oder Glaubwürdigkeit meiner Lehrer. Und so war ich eine Zeitlang mit überholten Systemen beschäftigt, vermengte wie ein Zauberlehrling tausend widersprüchliche Theorien und zappelte verzweifelt in einem wahren Morast der mannigfaltigsten Wissensstoffe herum, gelenkt von glühender Phantasie und kindlichem Denken, bis ein Zufall dem Strom meiner Ideen wieder eine andere Richtung gab.
Als ich etwa fünfzehn Jahre alt war, hatten wir uns in das Haus bei Belrive zurückgezogen, als wir ein besonders heftiges und furchtbares Gewitter erlebten. Es zog hinter den Bergen des Jura herauf, und der Donner brach sofort mit beängstigendem Getöse aus verschiedenen Himmelsrichtungen los. Solange das Gewitter anhielt, beobachtete ich seinen Fortgang mit
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