Frankenstein
über den Gedanken an eine militärische Laufbahn in einem fernen Land nicht erfreut. Aber Ernst hat nie Deinen Lerneifer besessen. Er betrachtet das Lernen als widerwärtige Fessel, seine Zeit verbringt er im Freien, steigt auf die Berge oder rudert auf dem See. Ich fürchte, er wird ein Müßiggänger, falls wir nicht nachgeben und ihm den Beruf zu ergreifen erlauben, den er sich gewählt hat.
Seit Du uns verlassen hast, hat sich wenig verändert, außer daß unsere lieben Kinder gewachsen sind. Der blaue See und die schneebedeckten Berge wandeln sich nie; und ich glaube, unser stilles Heim und unsere zufriedenen Herzen unterliegen denselben unveränderlichen Gesetzen. Meine kleinen Aufgaben nehmen meine Zeit in Anspruch und machen mir Spaß, und mein Lohn für jegliche Anstrengung ist es, nur glückliche und freundliche Gesichter um mich zu sehen. Seit Du uns verlassen hast, hat sich nur eine Veränderung in unserem kleinen Haushalt ereignet. Weißt Du noch, bei welcher Gelegenheit Justine Moritz in unsere Familie kam? Wahrscheinlich nicht, ich will Dir deshalb ihre Geschichte in wenigen Worten berichten. Madame Moritz, ihre Mutter, war eine Witwe mit vier Kindern, von denen Justine das dritte war. Dieses Mädchen war immer der Liebling ihres Vaters gewesen, doch durch einen sonderbaren Eigensinn konnte ihre Mutter sie nicht leiden und behandelte sie nach Monsieur Moritz’ Tod ganz schlecht. Meine Tante bemerkte das, und als Justine zwölf Jahre alt war, bewog sie ihre Mutter, sie zu uns zu geben. Die republikanischen Institutionen unseres Landes haben schlichtere und befriedigendere Sitten hervorgebracht, als sie in den umgebenden großen Monarchien herrschen. Deshalb gibt es hier geringere Unterschiede zwischen den verschiedenen Klassen der Bevölkerung. Und da die unteren Stände weder so arm noch so verachtet sind, haben sie eine kultiviertere und moralisch höherstehende Lebensart. Ein Dienstbote in Genf bedeutet nicht das gleiche wie ein Dienstbote in Frankreich und England. Justine, die so in unsere Familie aufgenommen wurde, lernte die Pflichten eines Dienstmädchens; ein Stand, der in unserem
vom Glück begünstigten Land nicht die Vorstellung der Unwissenheit und nicht den Verzicht der Menschenwürde einschließt. Du wirst Dich erinnern, daß Du Justine besonders gern hattest. Und ich entsinne mich, daß Du einmal sagtest, wenn Du schlechte Laune hättest, könne ein Blick von Justine sie vertreiben, aus demselben Grund, den Ariost hinsichtlich der Schönheit Angelicas nennt – sie sah so offenherzig und glücklich aus. Meine Tante faßte eine große Zuneigung zu ihr, was sie dazu bewog, ihr eine bessere Bildung zu ermöglichen, als sie zuerst vorgehabt hatte. Diese Wohltat wurde ihr voll vergolten; Justine war das dankbarste kleine Ding auf der Welt: ich meine nicht, daß sie irgendwelche Beteuerungen vorgebracht hätte; so etwas habe ich nie über ihre Lippen kommen hören. Aber man konnte es ihr an den Augen ablesen, daß sie ihre Beschützerin nahezu anbetete. Obwohl sie von übermütigem und in vieler Hinsicht unbedachtem Wesen war, ging sie doch mit größter Aufmerksamkeit auf jeden Wink meiner Tante ein. Sie hielt sie für das Muster jeder Vollkommenheit und gab sich Mühe, ihre Redeweise und ihr Benehmen nachzuahmen, so daß sie mich sogar jetzt noch oft an sie erinnert.
Als meine liebe Tante starb, waren alle zu sehr mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt, um auf die arme Justine zu achten, die sie während ihrer Krankheit mit sorgender Liebe gepflegt hatte. Die arme Justine wurde schwerkrank, doch ihr standen noch weitere Prüfungen bevor.
Nacheinander starben ihre Brüder und Schwestern, und ihre Mutter blieb kinderlos zurück, ihre vernachlässigte Tochter ausgenommen. Das Gewissen plagte die Frau, sie begann den Glauben zu nähren, der Tod ihrer Lieblingskinder sei die Strafe des Himmels für ihre einseitige Zuwendung. Sie war römisch-katholisch, und ich glaube, ihr Beichtvater bekräftigte den Gedanken, der ihr gekommen war. Folglich wurde wenige Monate nach Deiner Abreise nach Ingolstadt Justine von ihrer reuigen Mutter heimgeholt. Das arme Mädchen! Sie weinte, als sie unser Haus verließ.
Seit dem Tode meiner Tante hatte sie sich sehr verändert. Das Leid hatte ihrem Benehmen, das sich vorher durch Lebhaftigkeit ausgezeichnet hatte, Sanftheit und einnehmende Milde verliehen. Der Aufenthalt im Hause ihrer Mutter war auch nicht dazu angetan, ihr zur früheren Fröhlichkeit
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