Frankenstein
seine Augen, wenn man das Augen nennen darf, waren auf mich geheftet. Sein Unterkiefer bewegte sich, und er murmelte ein paar sinnlose Laute, während ein Grinsen seine Wange runzelte. Vielleicht sprach er, doch ich vernahm es nicht. Eine Hand hatte er ausgestreckt, wohl um mich aufzuhalten, doch ich entkam und raste die Treppe hinunter. Ich flüchtete mich in den Hof des Hauses, in dem ich wohnte; dort verbrachte ich den Rest der Nacht, in größter Erregung aufund abschreitend, auf jedes Geräusch achtend, stets in der Furcht, es kündige das Nahen des dämonischen Leichnams an, dem ich das Leben eingeflößt hatte.
Ach! Kein Sterblicher konnte das Grauen jenes Gesichts ertragen. Eine erneut vom Leben angehauchte Mumie konnte nicht so gräßlich sein wie dieses Scheusal. Ich hatte ihn betrachtet, solange er unvollendet war, da war er häßlich. Doch als diese Muskeln und Gelenke der Bewegung fähig wurden, wurde ein Ding daraus, wie es nicht einmal Dante hätte ersinnen können.
Ich verbrachte die Nacht ganz jämmerlich. Manchmal schlug mein Puls so rasch und stark, daß ich das Pochen jeder Ader spürte; dann wieder sank ich vor Mattigkeit und äußerster Schwäche fast zu Boden. Mit diesem Grauen mischte sich das bittere Gefühl der Enttäuschung. Träume, für mich so lange Zeit hindurch Nahrung und wohltuende Erquickung, waren für mich jetzt zur Hölle geworden; und der Wechsel vollzog sich so rasch, die Niederlage war so vollständig!.
Endlich dämmerte der Morgen trüb und naß auf und enthüllte meinen schlaflosen und schmerzenden Augen die Kirche von Ingolstadt, ihren weißen Turm und die Uhr, die die sechste Stunde anzeigte. Der Pförtner öffnete die Tore des Hofes, der in der Nacht mein Asyl gewesen war, und ich ging in die Straßen hinaus, durcheilte sie mit raschen Schritten, als suchte ich dem Scheusal zu entgehen, das sich, wie ich befürchtete, an jeder Straßenecke meinem Blick präsentieren würde. Ich wagte nicht in meine Wohnung zurückzukehren, sondern fühlte mich getrieben weiterzueilen, obwohl mich der Regen, der aus dem schweren und trostlosen Himmel herabschüttete, längst durchnäßt hatte.
So stürmte ich eine Zeitlang weiter und versuchte mich durch körperliche Ausarbeitung der Bürde zu erleichtern, die auf meinem Gemüt lastete. Ich durchschritt die Straßen ohne jeden klaren Begriff, wo ich mich befand oder was ich da tat. Mein Herz pochte krank vor Angst, und ich eilte mit ungleichmäßigem Schritt weiter und wagte nicht, mich umzusehen:
»Wie jemand auf verlassenem Pfad geht angstvoll Schritt um Schritt, sich einmal umblickt, dann nicht mehr, denn wie er weiß, tappt hinter ihm ein Ungeheuer mit.«
Ich fuhr so fort, bis ich schließlich vor dem Gasthof anlangte, wo gewöhnlich die Postkutschen und Wagen Halt machten. Hier blieb ich stehen, ich wußte nicht warum. Doch ich hielt minutenlang die Augen auf eine Kutsche geheftet, die vom anderen Straßenende auf mich zugefahren kam. Als sie sich näherte, bemerkte ich, daß es die Postkutsche aus der Schweiz war: sie hielt genau da, wo ich stand; und als der Wagenschlag geöffnet wurde, erkannte ich Henri Clerval, der sofort heraussprang, als er mich erblickte. »Mein lieber Frankenstein!« rief er aus. »Wie ich mich freue, dich zu sehen! Was für ein Glück, daß du genau in dem Moment hier bist, wo ich aussteige!«
Nichts kam meiner Freude gleich, als ich Clerval sah. Seine Gegenwart rief mir den Vater, Elisabeth und all jene Bilder der Heimat, die meiner Erinnerung so lieb waren, in die Gedanken zurück. Ich drückte ihm fest die Hand und vergaß im Nu mein Grauen und mein Unglück. Ich empfand plötzlich, zum ersten Mal seit vielen Monaten, stille und gelassene Freude. Deshalb hieß ich meinen Freund von Herzen willkommen, und wir wandten unsere Schritte zu meinem Kollegium. Clerval sprach noch eine ganze Weile von unseren gemeinsamen Freunden und schätzte sich glücklich, daß er nach Ingolstadt habe kommen dürfen. »Du kannst dir wohl denken«, sagte er, »wie schwierig es war, meinen Vater davon zu überzeugen, daß nicht alles nötige Wissen in der edlen Kunst der Buchführung zusammengefaßt ist; und ich glaube wirklich, er ist bis zuletzt skeptisch geblieben, denn seine ständige Antwort auf meine unermüdlichen Bitten war die gleiche wie bei dem holländischen Schulmeister im ›Landprediger von Wakefield‹: ›Ich habe zehntausend Gulden im Jahr ohne Griechisch, ich esse herzhaft ohne Griechisch.‹ Aber seine
Weitere Kostenlose Bücher