Frankenstein
Jahre meines Lebens habe ich auf einem Dorfanger herumgetobt und nichts gelesen außer den Reisebüchern unseres Onkels Thomas. In diesem Alter lernte ich die berühmten Dichter unseres Landes kennen; aber erst, als es nicht mehr in meiner Macht lag, aus der Erkenntnis den wesentlichsten Nutzen zu ziehen, bemerkte ich die Notwendigkeit, andere Sprachen kennenzulernen als die meines Vaterlandes. Jetzt bin ich achtundzwanzig und in Wirklichkeit unwissender als viele Schuljungen von fünfzehn. Es ist wahr, daß ich mehr nachgedacht habe und daß meine Tagträume weitreichender und großartiger sind, doch sie bedürfen (wie die Maler es nennen) des »Fixativs«; und ich brauchte so sehr einen Freund, der genug Verstand besäße, um mich nicht als Romantiker zu verachten, und genug Zuneigung zu mir, um nach einer Regulierung meines Geistes zu trachten. Nun, das sind sinnlose Klagen; ich werde gewiß keinen Freund auf dem weiten Ozean finden, nicht einmal hier in Archangelsk unter Kaufleuten und Seefahrern. Und doch pochen manche Gefühle, die nichts mit der Schlacke der menschlichen Natur zu tun haben, sogar in diesem rauhen Busen. Mein Leutnant zum Beispiel ist ein Mann von wunderbarem Mut und Unternehmungsgeist; er strebt rasend nach Ruhm; oder vielmehr, um meine Aussage treffender zu formulieren, nach beruflichem Aufstieg. Er ist Engländer, und inmitten nationaler und beruflicher Vorurteile, ohne eine Glättung durch Bildung, bewahrt er sich einige der edelsten Gaben der Menschlichkeit. Ich habe ihn an Bord eines Walfangschiffes kennengelernt: als ich erfuhr, daß er sich ohne Beschäftigung in dieser Stadt aufhielt, bekam ich ihn mühelos dazu, bei meiner Unternehmung mitzuwirken.
Der Kapitän ist ein Mann von vortrefflichem Wesen und zeichnet sich auf dem Schiff durch seine Güte und milde Disziplin aus. Dieser Umstand, dazu seine allgemein bekannte Redlichkeit und Unerschrockenheit, machten mich erpicht darauf, ihn anzuheuern. Eine in Einsamkeit verbrachte Jugend, meine besten Jahre unter Deiner sanften und weiblichen Obhut, haben die Grundlage meines Charakters so verfeinert, daß ich eine heftige Abscheu gegen die an Bord übliche Brutalität nicht überwinden kann: ich habe sie nie für notwendig gehalten; und als ich von einem Seemann hörte, der gleichermaßen für seine Herzensgüte und den ihm von seiner Mannschaft gezollten Respekt und Gehorsam berühmt war, fühlte ich mich ganz besonders vom Glück begünstigt, mir seine Dienste sichern zu können. Zum ersten Mal hörte ich von ihm auf recht romantische Weise von einer Dame, die ihm ihr Lebensglück verdankt. Folgendes ist, kurzgefaßt, seine Geschichte. Vor Jahren liebte er eine junge russische Dame von bescheidenem Vermögen, und da er eine beträchtliche Summe an Prisengeldern angesammelt hatte, willigte der Vater des Mädchens in die Partie ein. Er kam vor der Trauungszeremonie ein einziges Mal unter vier Augen mit seiner Angebeteten zusammen, sie aber zerfloß in Tränen, warf sich ihm zu Füßen und flehte ihn an, sie zu verschonen, wobei sie ihm gestand, sie liebe einen anderen, doch der sei arm, und ihr Vater werde nie der Heirat zustimmen. Mein großmütiger Freund beschwichtigte die Bittstellerin, und nachdem er den Namen des Geliebten erfahren hatte, gab er sofort seine Werbung auf. Er hatte mit seinem Geld bereits ein Gut gekauft, auf dem er den Rest seines Lebens zu verbringen gedachte. Doch er schenkte das Ganze seinem Rivalen, zusammen mit dem Rest seines Prisengeldes für den Ankauf von Vieh, und dann beschwor er selbst den Vater der jungen Frau, ihr die Heirat mit dem Geliebten zu gestatten. Aber der alte Mann weigerte sich entschieden, hielt er sich doch ehrenhalber meinem Freund verpflichtet; als dieser den Vater so unerbittlich fand, verließ er das Land und kehrte erst wieder zurück, als er erfuhr, daß seine frühere Angebetete ihrer Neigung entsprechend verheiratet war. »Welch edler Mensch!« wirst Du ausrufen. Das ist er, aber er ist auch völlig ungebildet: er ist schweigsam wie ein Türke und hat eine Art stumpfe Gleichgültigkeit an sich, die zwar sein Verhalten umso erstaunlicher macht, aber die Anteilnahme und Sympathie mindert, die er sonst erregen würde. Jedoch glaube nicht, weil ich mich ein wenig beklage, oder weil ich mir einen Trost für meine Mühen vorstellen kann, den ich vielleicht nie erleben werde, ich sei in meinen Entschlüssen wankend geworden. Diese stehen fest wie das Schicksal; und meine Reise ist jetzt
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