Frankenstein
soweit es meine Pflichten gestatteten. Ich habe nie einen interessanteren Menschen kennengelernt: seine Augen zeigen gewöhnlich einen wilden, ja sogar wahnsinnigen Ausdruck; doch hin und wieder, wenn jemand ihm eine Freundlichkeit oder auch nur den geringsten Dienst erweist, strahlt sein Gesicht sozusagen in einem Glanz von Güte und Liebenswürdigkeit auf, wie ich es noch nie ähnlich erlebt habe. Aber im allgemeinen ist er melancholisch und verzweifelt; und manchmal knirscht er mit den Zähnen, als machte ihn die Last des Leids, die ihn bedrückt, ungeduldig.
Als mein Gast sich ein wenig erholt hatte, mußte ich mit großer Mühe die Männer abwehren, die ihm tausend Fragen stellen wollten; aber ich ließ es nicht zu, daß sie ihn mit ihrer müßigen Neugier plagten, da bei seiner körperlichen und seelischen Verfassung seine Genesung offensichtlich von völliger Ruhe abhing. Einmal jedoch fragte ihn der Leutnant, wieso er in einem derart sonderbaren Gefährt so weit aufs Eis hinausgefahren sei.
Seine Miene nahm im Nu einen Ausdruck tiefster Schwermut an, und er antwortete: »Um jemanden zu suchen, der vor mir geflohen ist.«
»Und ist der Mann, den sie verfolgten, auf die gleiche Weise gereist?«
»Ja.«
»Dann glaube ich, wir haben ihn gesehen; denn am Tag, bevor wir Sie aufnahmen, haben wir einen Mann in einem Hundeschlitten über das Eis fahren sehen.«
Das ließ den Fremden aufhorchen; und er stellte zahllose Fragen nach der Route, die der Dämon, wie er ihn nannte, eingeschlagen hatte. Bald danach, als er mit mir allein war, sagte er: »Ich habe sicherlich Ihre Neugier und die dieser guten Leute geweckt, aber Sie sind zu rücksichtsvoll, um mir Fragen zu stellen.«
»Gewiß; es wäre wirklich sehr aufdringlich und unmenschlich von mir, Sie mit meiner Wißbegierde zu belästigen.« »Und doch haben Sie mich aus einer außergewöhnlichen und gefährlichen Lage gerettet; Sie haben mich voller Güte ins Leben zurückgeholt.«
Bald danach erkundigte er sich, ob ich meine, das Aufbrechen des Eises habe den anderen Schlitten vernichtet. Ich erwiderte, das könne ich nicht mit auch nur annähernder Gewißheit beantworten; denn das Eis sei erst gegen Mitternacht geborsten, und der Reisende mochte schon vor diesem Zeitpunkt einen sicheren Ort erreicht haben; doch darüber könne ich nicht urteilen.
Von dieser Zeit an erfüllte neuer Lebensmut den hinfälligen Körper des Fremden. Er war mit größtem Eifer bestrebt, sich an Deck aufzuhalten und nach dem Schlitten Ausschau zu halten, der vor dem seinen aufgetaucht war; aber ich habe ihn überredet, in der Kajüte zu bleiben, denn er ist viel zu schwach, um die schneidende Kälte der Luft zu ertragen. Ich habe ihm versprochen, jemand werde für ihn die Wache übernehmen und ihn unverzüglich benachrichtigen, sobald irgend etwas Ungewöhnliches in Sicht komme.
Das ist mein Bericht über diesen seltsamen Vorfall bis zum heutigen Tage. Die Gesundheit des Fremden hat sich allmählich gebessert, jedoch ist er sehr schweigsam und wirkt beunruhigt, wenn jemand anders als ich seine Kajüte betritt. Dabei ist sein Umgangston so freundlich und verbindlich, daß alle Seeleute Anteil an ihm nehmen, obwohl sie sehr wenig Berührung mit ihm hatten. Ich für mein Teil beginne ihn wie einen Bruder zu lieben, und sein beständiger und tiefer Kummer erfüllt mich mit Sympathie und Mitleid. Er muß in seinen besseren Tagen ein edler Mensch gewesen sein, ist er doch sogar jetzt als Wrack noch so anziehend und liebenswürdig. In einem meiner Briefe schrieb ich, meine liebe Margaret, ich würde auf dem weiten Ozean keinen Freund finden; und doch habe ich einen Mann gefunden, den ich mit Freuden als Herzensbruder an mich gebunden hätte, ehe sein Geist vom Elend gebrochen ward.
Ich will mein Tagebuch über den Fremden in Abständen fortsetzen, sobald ich irgendwelche neuen Vorfälle zu berichten habe.
13. August 17. Meine Zuneigung für meinen Gast wächst von Tag zu Tag. Er weckt in erstaunlichem Maße meine Bewunderung und mein Mitleid zugleich. Wie kann ich einen so edlen Menschen, vom Kummer ausgehöhlt, vor Augen haben, ohne den heftigsten Schmerz zu empfinden? Er ist so freundlich und dabei so weise; sein Geist ist so kultiviert; und wenn er spricht, kommen ihm die Worte, auch wenn sie noch so erlesen gewählt sind, doch flüssig und mit unvergleichlicher Beredsamkeit.
Er hat sich jetzt schon gut von seiner Krankheit erholt und hält sich ständig an Deck auf, offenbar nach dem
Weitere Kostenlose Bücher