Frankenstein
nur aufgeschoben, bis das Wetter meine Abreise gestattet. Der Winter ist furchtbar streng gewesen, doch der Frühling sieht verheißungsvoll aus und soll erstaunlich zeitig gekommen sein. Also werde ich vielleicht früher abfahren, als ich berechnet hatte. Ich werde nicht übereilt handeln: Du kennst mich genügend, um Dich auf meine Besonnenheit und Rücksichtnahme zu verlassen, wann immer die Sicherheit anderer meiner Obhut anvertraut ist.
Ich kann Dir nicht beschreiben, was ich angesichts der unmittelbaren Nähe meiner Unternehmung fühle. Es ist unmöglich, Dir einen Begriff der halb angenehmen, halb angstvoll bebenden Empfindung zu vermitteln, mit der ich mich auf die Abreise vorbereite. Ich breche in unerforschte Regionen auf, in »das Land des Nebels und des Schnees«, doch ich werde keinen Albatros töten, mache Dir deshalb keine Sorgen um meine Sicherheit, oder daß ich so mitgenommen und kläglich wie der »Alte Seemann« zu Dir zurückkehren könnte! Du wirst über meine Anspielung lächeln, aber ich will Dir ein Geheimnis verraten. Ich habe oft meine Liebe, meine leidenschaftliche Begeisterung für die gefährlichen Geheimnisse des Ozeans jenem Werk des phantasiereichsten unserer modernen Dichter zugeschrieben. In meiner Seele spielt sich etwas ab, das ich nicht begreife. Ich habe in praktischen Belangen genug von einem fleißigen, unverdrossen arbeitenden Menschen, um meine Vorhaben mit Ausdauer und unter großer Anstrengung zu verwirklichen – doch darüber hinaus sind alle meine Pläne von einer Liebe zum Wundersamen, einem Glauben an das Wunderbare durchwoben, die mich von den gewöhnlichen Pfaden der Menschheit abdrängen, sogar auf die wilde See und in die noch von niemandem betretenen Regionen hinaus, die ich mich zu erforschen anschicke.
Doch um auf innigere Betrachtungen zurückzukommen. Werde ich Dich wiedersehen, wenn ich ungeheure Meere befahren habe und um das südlichste Kap Afrikas oder Amerikas herum zurückgekehrt bin? Ich wage soviel Erfolg nicht zu erwarten, jedoch kann ich es nicht ertragen, die Kehrseite des Bildes zu betrachten. Fahre vorläufig fort, mir bei jeder Gelegenheit zu schreiben: womöglich erhalte ich Deine Briefe manchmal unter Umständen, wo ich sie am nötigsten brauche, um meinen Mut aufrechtzuerhalten. Ich habe Dich von Herzen lieb. Gedenke meiner in Liebe, solltest Du nie wieder von mir hören.
Dein Dich liebender Bruder
Robert Walton
Dritter Brief
An Mrs. Saville, England 7. Juli 17.
Meine liebe Schwester,
ich schreibe in aller Hast ein paar Zeilen, um Dir mitzuteilen, daß es mir gut geht und meine Reise
günstig verläuft. Dieser Brief erreicht England mit einem
Handelsschiff, das sich jetzt auf der Heimreise von Archangelsk befindet. Es hat mehr Glück als ich, der sein Vaterland
vielleicht viele Jahre lang nicht mehr wiedersieht. Ich bin jedoch guter Dinge: meine Leute sind mutig und zielbewußt;
auch scheinen die treibenden Eisschollen, die uns ständig entgegenkommen und auf die Gefahren der Region hinweisen,
auf die wir zuhalten, sie nicht zu erschrecken. Wir haben bereits eine sehr hohe geographische Breite erreicht; aber es ist
Hochsommer, wenn auch nicht so warm wie in England, doch
atmen die steifen südlichen Winde, die uns rasch jenen Küsten
zutreiben, die ich so glühend zu erreichen wünsche, in einem
Maße eine wohltuende Wärme, wie ich es nicht erwartet hatte. Bisher ist nichts vorgefallen, was in einem Brief erwähnenswert wäre. Ein, zwei Stürme und ein kleines Leck sind Vorfälle, die erfahrene Seefahrer im allgemeinen zu berichten vergessen; und ich will zufrieden sein, wenn uns bei unserer Reise nichts Schlimmeres widerfährt.
Lebewohl, meine liebe Margaret. Glaube mir, daß ich mich um meinet- ebenso wie um deinetwillen nicht unbesonnen der Gefahr aussetze. Ich werde kühl, standhaft und umsichtig sein.
Doch der Erfolg soll meine Mühen krönen. Warum auch nicht? So weit bin ich gekommen, indem ich einen sicheren Weg über das weglose Meer ziehe: die Sterne selbst sind Zuschauer und Zeugen meines Triumphs. Weshalb nicht weiter über das ungezähmte und doch gehorsame Element vorrücken? Was kann das entschlossene Herz und den festen Willen des Menschen aufhalten?
So fließt mein übervolles Herz unwillkürlich über. Doch ich muß schließen. Der Himmel segne meine geliebte Schwester! R.W.
Vierter Brief
An Mrs. Saville, England 5. August 17.
Ein so eigenartiger Zwischenfall hat sich ereignet, daß ich
mich nicht enthalten kann, ihn
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