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Frankenstein

Frankenstein

Titel: Frankenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Wollstonecraft Shelley
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nicht. Vernimm meine Geschichte: wenn du sie gehört hast, verlasse oder bemitleide mich, wie ich es nach deinem Urteil verdiene. Aber höre mich an. Die menschlichen Gesetze, so blutig sie sind, erlauben es den Schuldigen, zu ihrer eigenen Verteidigung zu sprechen, bevor man sie verurteilt. Höre mir zu, Frankenstein. Du klagst mich des Mordes an, und doch würdest du mit ruhigem Gewissen dein eigenes Geschöpf vernichten. O gelobt sei die ewige Gerechtigkeit des Menschen! Doch ich bitte dich nicht, mich zu verschonen. Höre mich an; und dann, wenn du kannst, wenn du willst, zerstöre das Werk deiner Hände.«
»Weshalb rufst du mir Vorfälle in Erinnerung«, gab ich zurück, »die mich erschauern lassen, wenn ich nur daran denke, daß ich deren elender Ursprung und Urheber war? Verflucht sei der Tag, abscheulicher Teufel, an dem du das Licht der Welt erblickt hast! Verflucht (obwohl ich mich selbst verfluche) seien die Hände, die dich gestaltet haben! Du hast mich unsagbar unglücklich gemacht. Du hast mir keine Kraft mehr gelassen, zu bedenken, ob ich gerecht zu dir bin oder nicht. Hinweg! Erlöse mich vom Anblick deiner widerlichen Gestalt.«
»So erlöse ich dich, mein Schöpfer«, sagte er und bedeckte meine Augen mit seinen, verhaßten Händen, die ich heftig von mir stieß. »So befreie ich dich von einem Anblick, den du verabscheust. Dennoch kannst du mir zuhören und mir dein Mitgefühl schenken. Bei den guten Eigenschaften, die ich einst besaß, fordere ich das von dir. Höre meine Geschichte. Sie ist lang und sonderbar, und die Temperatur dieses Ortes taugt nicht für deine empfindlichen Sinne. Komm in die Hütte auf dem Berg. Die Sonne steht noch hoch am Himmel; bevor sie herabsinkt, um sich hinter den schneebedeckten Abgründen da drüben zu verbergen und eine andere Welt zu beleuchten, hast du meine Geschichte gehört und kannst entscheiden. Es liegt an dir, ob ich die Nähe des Menschen für immer verlasse und ein unschädliches Leben führe oder die Geißel deiner Mitmenschen werde und der Urheber deines eigenen raschen Verderbens.«
Bei diesen Worten schritt er mir über das Eis voraus, ich folgte. Mein Herz war voll, und ich gab ihm keine Antwort. Aber im Gehen erwog ich die Reihe der von ihm vorgebrachten Argumente und beschloß, mir wenigstens seine Geschichte anzuhören. Zum Teil trieb mich die Neugier, und das Mitgefühl festigte meinen Entschluß. Bisher hielt ich ihn noch immer für den Mörder meines Bruders, und ich suchte begierig eine Bestätigung oder Widerlegung dieser Ansicht. Auch erkannte ich zum ersten Mal, welche Pflichten der Schöpfer gegenüber seinem Geschöpf hatte und daß ich für sein Glück hätte sorgen müssen, ehe ich mich über seine Verruchtheit beschwerte. Diese Beweggründe drängten mich, seinem Verlangen nachzugeben. Wir überquerten also das Eis und bestiegen den gegenüberliegenden Felsen. Die Luft war kalt, und der Regen setzte wieder ein; wir betraten die Hütte, der Unhold mit frohlockender Miene, ich mit schwerem Herzen und in gedrückter Stimmung. Doch ich erklärte mich bereit, ihn anzuhören. Und während ich mich ans Feuer setzte, das mein widerwärtiger Begleiter angezündet hatte, begann er seine Erzählung folgendermaßen.

Elftes Kapitel
    »Nur unter größten Schwierigkeiten erinnere ich mich an die erste Etappe meines Daseins: alle Geschehnisse jener Zeit erscheinen mir verworren und unbestimmt. Eine sonderbare Vielzahl von Empfindungen erfüllte mich, und ich sah, fühlte, hörte und roch gleichzeitig. Es dauerte in der Tat lange, bis ich zwischen den Funktionen meiner verschiedenen Sinne zu unterscheiden lernte. Allmählich, das weiß ich noch, drang ein stärkeres Licht auf meine Nerven ein, so daß ich die Augen schließen mußte. Dann überfiel mich die Dunkelheit und ängstigte mich. Doch kaum hatte ich das empfunden, da strömte das Licht wieder auf mich ein, wie ich jetzt vermute, weil ich die Augen öffnete. Ich ging und, glaube ich, stieg hinab. Doch bald bemerkte ich eine große Wandlung in meinen Empfindungen. Vorher hatten mich dunkle und für meine Berührung und meinen Blick undurchdringliche Gegenstände umgeben. Doch jetzt merkte ich, daß ich ungehindert weiterwandern konnte, ohne Hindernisse, die ich nicht entweder zu übersteigen oder zu umgehen vermochte. Das Licht wurde mir immer lästiger. Und da die Hitze mich beim Gehen ermüdete, suchte ich eine Stelle, wo ich Schatten hatte. Das war der Wald bei Ingolstadt. Und hier lag

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