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Frankenstein

Frankenstein

Titel: Frankenstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Wollstonecraft Shelley
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ständigen kurzen Windungen, die es einem ermöglichen, die senkrechte Wand des Berges zu erklimmen. Es ist ein fürchterlich ödes Bild. An tausend Stellen kann man die Spuren der Winterlawinen wahrnehmen, wo die Bäume umgeknickt auf der Erde verstreut liegen, manche gänzlich zerstört, andere schräg geneigt, gegen die vorspringenden Felsen des Berges oder quer gegen andere Bäume lehnend. Wenn man höher kommt, durchschneiden schneegefüllte Spalten den Weg, in denen von oben her ständig Steine herabrollen. Eine dieser Spalten ist besonders gefährlich, da der leiseste Schall, wie schon lautes Sprechen, ausreicht, um eine Luftschwingung hervorzurufen, die Vernichtung auf das Haupt des Sprechenden herabbeschwört. Die Tannen sind nicht hoch oder kräftig, aber sie wirken düster und verleihen dem Bild eine strenge Stimmung. Ich blickte in das Tal unter mir. Dichte Nebelschleier wallten von den Flüssen auf, die es durchschnitten, und wanden sich in dicken Schwaden um die Berge gegenüber, deren Gipfel in den gleichförmigen Wolken verborgen waren, während vom dunklen Himmel der Regen herabströmte und den schwermütigen Eindruck verstärkte, den ich von den Dingen um mich herum empfing. Ach, wieso rühmt sich der Mensch eines Empfindungsvermögens, das dem beim Tier erkennbaren überlegen sei. Es macht ihn nur zu einem um so weniger freien Wesen. Wären unsere Triebe auf Hunger, Durst und Begierde beschränkt, wären wir beinahe frei, doch so bewegt uns jeder Windstoß und jedes zufällige Wort oder eine Szene, die dieses Wort womöglich in uns wachruft.
    Wir ruhn, ein Traum kann unsern Schlaf vergällen, den Tag verdirbt ein schweifender Gedanke; wir fühlen, grübeln, lachen, Tränen quellen, wir leiden Kummer, weisen ihm die Schranke: es bleibt sich gleich, ob’s Freuden sind, ob Sorgen, sie können fliehn, sie hindert keine Hand. Das Gestern gleicht womöglich nie dem Morgen, wohl nichts als die Veränderung hat Bestand.
    Es war fast Mittag, als ich den Aufstieg beendet hatte. Eine Zeitlang blieb ich auf dem Felsen sitzen, der das Meer von Eis überragt. Nebel bedeckte dieses ebenso wie die umgebenden Berge. Dann vertrieb eine Brise das Gewölk, und ich stieg zum Gletscher ab. Die Oberfläche ist stark zerrissen, steigt auf wie die Wogen einer unruhigen See, fällt schroff ab und ist von weit in die Tiefe reichenden Spalten durchsetzt. Das Eisfeld ist fast eine Meile breit, aber ich brauchte rund zwei Stunden, um es zu überqueren. Der gegenüberliegende Berg ist ein kahler, senkrecht abfallender Felsen. Von der Seite aus, wo ich jetzt stand, hatte ich den Montanvert genau gegenüber, eine Meile von mir entfernt, und dahinter ragte in ehrfurchtgebietender Majestät der Mont Blanc auf. Ich verharrte in einer Nische des Felsens und betrachtete diese wunderbare und überwältigende Szene. Das Meer, oder eher der ungeheure Fluß von Eis, wand sich zwischen den ihm zugehörigen Berge, deren luftige Gipfel über seinen Ausbuchtungen schwebten. Ihre eisigen und glitzernden Grate leuchteten im Sonnenlicht über den Wolken. Mein Herz, das vorher bedrückt war, füllte sich jetzt mit etwas wie Freude. Ich rief aus: »Ruhelose Geister, wenn ihr wirklich umherstreift und nicht in euren engen Betten ruht, vergönnt mir dieses schwache Glück oder entreißt mich als euren Gefährten den Freuden des Lebens!«
    Während ich das aussprach, erblickte ich plötzlich in einiger Entfernung die Gestalt eines Mannes, der mit übermenschlicher Geschwindigkeit auf mich zukam. Er sprang über die Eisspalten, zwischen denen ich mich behutsam vorangetastet hatte, und auch seine Statur schien, als er sich näherte, die eines Menschen zu überragen. Ich fühlte mich beklommen. Ein Nebelschleier legte sich über meine Augen, und ich spürte, wie mich eine Schwäche überkam, doch im kalten Wind der Berge erholte ich mich rasch. Als die Gestalt näher kam (schrecklicher und abscheulicher Anblick!) erkannte ich, daß es das Scheusal war, das ich geschaffen hatte. Ich bebte vor Zorn und Grauen und beschloß, seine Annäherung abzuwarten und dann mit ihm auf Tod und Leben zu ringen. Er kam heran. Seine Miene drückte bitteren Schmerz aus, im Verein mit Verachtung und Bösartigkeit, während seine unirdische Häßlichkeit ihn fast zu gräßlich für Menschenaugen machte. Doch das bemerkte ich kaum. Wut und Haß hatten mir anfangs die Sprache verschlagen, und ich erholte mich nur, um ihn mit Worten zu überschütten, aus denen wilde Abscheu

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