Frankenstein
als bei Deiner Abreise aus Genf. Dieser Winter ist ganz trübselig vergangen, denn Sorge und Ungewißheit haben mich gefoltert. Doch ich hoffe, daß ich von Deiner Miene den Ausdruck des Friedens ablesen kann und Gewißheit finde, daß Dein Herz nicht ganz des Trostes und der inneren Ruhe entbehrt.
Doch fürchte ich, daß Dich noch die gleichen Gefühle beherrschen, die Dich vor einem Jahr so unglücklich gemacht haben, ja, vielleicht hat die Zeit sie sogar vermehrt. Ich möchte Dich eben jetzt nicht aufregen, wo so viel Unglück auf Dir lastet. Aber ein Gespräch, das ich mit Deinem Onkel vor seiner Abreise geführt habe, macht eine Erklärung notwendig, bevor wir uns wiedersehen.
Erklärung, sagst Du vielleicht; was kann Elisabeth zu erklären haben? Wenn Du das wirklich sagst, sind meine Fragen beantwortet und alle meine Zweifel gelöscht. Doch Du bist fern von mir, und es ist möglich, daß Du diese Erklärung fürchtest und doch froh darüber bist. Sollte dies der Fall sein, wage ich nicht länger aufzuschieben, Dir zu schreiben, was ich Dir während Deiner Abwesenheit schon oft hätte mitteilen wollen, doch hatte ich nie den Mut dazu.
Du weißt sehr wohl, Viktor, daß unsere Heirat seit unserer Kindheit der Lieblingsplan Deiner Eltern war. Man hat uns das gesagt, als wir noch ganz jung waren, und hat uns gelehrt, dem als einem Ereignis entgegenzublicken, das mit Sicherheit eintreten werde. In der Kindheit waren wir zärtliche Spielgefährten und als wir älter wurden Freunde, die einander liebten und schätzten, wie ich meine. Doch wie Bruder und Schwester oft eine starke Zuneigung füreinander empfinden, ohne nach einer intimeren Verbindung zu verlangen, könnte das nicht auch bei uns der Fall sein? Sage es mir, liebster Viktor. Antworte mir, ich beschwöre Dich bei unserem beiderseitigen Glück, mit der schlichten Wahrheit – liebst Du eine andere? Du warst auf Reisen, Du hast mehrere Jahre Deines Lebens in Ingolstadt verbracht. Und ich gestehe Dir, mein Freund, als ich Dich im vergangenen Herbst so unglücklich erlebte, vor der Gesellschaft jedes Menschen in die Einsamkeit fliehend, konnte ich dem Verdacht nicht ausweichen, daß Du womöglich unsere Bindung bedauertest und Dich ehrenhalber verpflichtet fühltest, den Wunsch Deiner Eltern zu erfüllen, obwohl er Deiner Neigung widerspräche. Doch das wäre eine falsche Schlußfolgerung. Ich gestehe Dir, mein Freund, daß ich Dich liebe und daß Du in meinen beschwingten Zukunftsträumen stets mein Freund und Gefährte gewesen bist. Jedoch habe ich Dein Glück genau wie das meine im Sinn, wenn ich Dir erkläre, daß unsere Heirat mich auf ewig unglücklich machen würde, sofern sie für Dich nicht das Gebot Deiner freien Wahl wäre. Sogar jetzt weine ich bei dem Gedanken, daß Du, ohnehin durch das grausamste Unglück niedergedrückt, womöglich mit dem Wort Ehre alle Hoffnung auf jene Liebe und jenes Glück erstickst, die allein Dich wieder aufrichten würden. Ich, die eine so uneigennützige Liebe für Dich hegt, könnte Dein Elend verzehnfachen, wenn ich ein Hindernis für Deine Wünsche darstellte. Ach, Viktor! Sei versichert, daß Deine Kusine und Spielgefährtin eine zu aufrichtige Liebe zu Dir hegt, als daß diese Vermutung sie nicht betrüben müßte. Werde glücklich, mein Freund. Und wenn Du dieser meiner einzigen Bitte nachkommst, sei überzeugt, daß nichts auf Erden die Macht hat, meine Seelenruhe zu stören.
Laß Dich von diesem Brief nicht beunruhigen. Wenn es Dir weh tut, antworte nicht morgen oder übermorgen oder auch nur vor Deiner Rückkehr. Mein Onkel wird mich über Dein Befinden unterrichten. Und wenn wir uns wiedersehen und ich ein Lächeln auf Deinen Lippen sehe, angeregt von dieser Äußerung oder anderen Bemühungen meinerseits, brauche ich kein anderes Glück.
Elisabeth Lavenza.«
Dieser Brief weckte in meiner Erinnerung, was ich vorher vergessen hatte, die Drohung des Unholds: »In deiner Hochzeitsnacht bin ich bei dir!« Dazu war ich verurteilt, und in jener Nacht würde der Dämon jede List anwenden, um mich zu vernichten und mich von dem flüchtigen Blick auf das Glück fortreißen, der meine Leiden teilweise zu beschwichtigen versprach. In jener Nacht wollte er mit meinem Tod seine Verbrechen zum Gipfel führen. Nun, so sollte es sein. Mit Sicherheit würde dann ein tödlicher Kampf stattfinden, und falls er siegte, würde ich dabei meinen Frieden finden, und seine Macht über mich wäre zu Ende. Würde er bezwungen, wäre
Weitere Kostenlose Bücher