Frankenstein - Der Schatten: Roman (German Edition)
sämtliche Säckchen mit hohlen Händen aus der Schublade und ließ sie in den Koffer fallen.
Zweifellos unterhielt Victor Konten bei Offshore-Banken, auf denen sich beträchtliche Summen befanden; bei den offiziellen Kontoinhabern handelte es sich gewiss um ein so
kunstvoll geknüpftes Netz von Scheinfirmen und falschen Namen, dass kein Steuereinzieher sie mit ihm in Verbindung bringen konnte. Dort bewahrte er den größeren Teil seines Reichtums auf.
Was Erika hier nach Victors Anweisungen zusammentrug, war sein Notgroschen für den Fall einer Flucht, da er diese Rücklagen möglicherweise brauchen würde, falls die momentane Krise nicht aufzuhalten war. Als sie ihm am Telefon zugehört hatte, hatte sie gedacht, er sollte das Wort möglicherweise streichen und falls durch wenn ersetzen, doch sie hatte nichts gesagt.
Mit dem Koffer kehrte sie in die verspiegelte Nische zurück, wandte sich noch einmal der offenen Tresortür zu und sagte: »Schließen und verriegeln.«
Die pneumatische Tür schloss sich zischend. Die Riegel schoben sich vor. Der Spiegel glitt wieder herab und brachte ihr Spiegelbild zurück, als hätte er es vorhin in die Decke mitgenommen.
In der Garage verstaute Erika beide Gepäckstücke im Heck des GL 550.
Mit einem großen Seesack für die Bücher kehrte sie in die Bibliothek zurück. In seiner neuen Aufmachung sah Jocko weniger wie Huckleberry Finn aus, sondern eher wie eine Mutant Ninja Turtle von einem anderen Planeten, die aus ihrem Panzer herausgekommen war und vermutlich nur als menschlich durchgehen würde, wenn die gesamte Erdbevölkerung mit Blindheit geschlagen wurde.
Die ausgebleichte Jeans mochte zwar von vorn ganz ordentlich aussehen, aber am Hosenboden sackte sie herunter, weil der Troll so gut wie keinen Hintern hatte. Seine dünnen bleichen Arme waren länger als die eines richtigen Jungen, und daher reichte das langärmelige T-Shirt nicht bis auf seine Handgelenke, sondern endete acht Zentimeter darüber.
Zum ersten Mal fiel Erika bewusst auf, dass Jocko an jeder Hand sechs Finger hatte.
Er hatte den Riemen am hinteren Ende der Baseballkappe auf maximale Länge eingestellt, damit sie ihm passte, doch jetzt war sie ihm tatsächlich zu groß. Die Mütze reichte über seine Blumenkohlohren, und er schob sie immer wieder zurück, damit er unter dem Schirm herausschauen konnte.
»Das ist kein lustiger Hut«, sagte er.
»Nein. Ich konnte hier keinen finden, und das Geschäft, in dem es lustige Hüte gibt, macht nicht vor neun Uhr auf.«
»Vielleicht liefern sie vor den Öffnungszeiten ins Haus.«
Während sie Jockos Auswahl an Büchern in den Seesack stopfte, sagte Erika: »Die liefern nicht ins Haus wie eine Pizzabäckerei.«
»Eine Pizza wäre ein lustigerer Hut als der hier. Lass uns eine Pizza bestellen.«
»Meinst du nicht, mit einer Pizza auf dem Kopf würdest du mehr Aufmerksamkeit auf dich lenken, als uns lieb ist?«
»Nein. Und mit den Schuhen wird das nichts.«
Selbst nachdem er die Schnürsenkel herausgezogen hatte, war es ihm nicht möglich gewesen, seine breiten Füße einigermaßen bequem in die Turnschuhe zu zwängen.
Er sagte: »Jocko läuft barfuß ohnehin viel besser. Da hat er mehr Halt, und wenn er an seinen Zehen lutschen will, braucht er sie nicht erst auszuziehen.«
Seine Zehen waren fast so lang wie Finger, und jeder hatte drei Gelenke. Erika glaubte, er müsse so gut klettern können wie ein Affe.
»Wahrscheinlich bist du gut genug getarnt, wenn du im Wagen bleibst«, sagte sie. »Und wenn du auf deinem Sitz weit runterrutschst. Und wenn du nicht aus dem Fenster schaust, während ein anderer Wagen an uns vorbeifährt. Und wenn du niemandem zuwinkst.«
»Darf Jocko ihnen den Stinkefinger zeigen?«
Sie runzelte die Stirn. »Weshalb solltest du jemanden mit einer obszönen Geste verletzen wollen?«
»Man kann ja nie wissen. Sagen wir zum Beispiel, es ist eine schöne Nacht, ein großer Mond und Sterne überall, und plötzlich verhaut dich eine Frau mit einem Besen, und ein Typ schlägt dir einen leeren Eimer auf den Kopf und schreit: ›Was ist denn das, was ist denn das, was ist denn das?‹ Und du rennst schneller weg, als sie rennen können, und du willst ihnen etwas wirklich Schlaues zurufen, aber dir fällt absolut nichts Schlaues ein, dann bleibt dir immer noch der Stinkefinger. Darf Jocko das Okay-Zeichen machen?«
»Ich glaube, es ist besser, wenn du deine Hände unten behältst und einfach nur die Fahrt genießt.«
»Darf Jocko
Weitere Kostenlose Bücher