Frankenstein - Der Schatten: Roman (German Edition)
hätte, und von unten wehte ein Luftzug hoch. Das Atmen bereitete ihr hier keine größeren Schwierigkeiten als an der Oberfläche, und der schlechte Geruch war keinesfalls schlimmer, eher sogar weniger störend.
Als sie über die Schulter einen Blick auf Nick mit der Hundenase warf, bebten seine Nasenlöcher und weiteten sich, und er lächelte erfreut. Für sein gesteigertes Geruchsempfinden war der Weg dieser Pilgerfahrt mit einem einzigartigen Duft parfümiert. Dasselbe galt auch für Duke of New Orleans.
Das stetige leichte Gefälle des Tunnels führte sie vielleicht drei Meter unter die Oberfläche, als sie vom Eingang aus dreißig Meter zurückgelegt hatten. Hier wandte sich der Gang scharf nach links und weitete sich zu einer geräumigen Kammer, bevor er eine Biegung machte und in einem steileren Winkel abzufallen schien.
In dieser Kammer erwartete sie der Erwecker, ursprünglich am Rande des Scheins ihrer Lichter, nur halb sichtbar und geheimnisvoll.
Die Breite der Kammer gestattete der Prozession, sich zu verteilen, damit die Sicht für jeden unverstellt war. Carson warf einen Blick nach links und dann nach rechts und sah, dass dieses mysteriöse Wesen auf alle außer ihr und Michael eine tiefgreifende Wirkung zu haben schien. Sie waren nicht verzückt, aber mit Sicherheit zufrieden, ausgeglichen und in sich ruhend. Auf vielen Gesichtern stand ein Lächeln, und Augen leuchteten.
Als sie sich in einer Reihe nebeneinander aufstellten, kam das Wesen näher, und Schatten glitten von ihm fort, während das Licht es in gesponnenes Gold einzuhüllen schien.
Zu ihrem Erstaunen stellte sich bei Carson ein Gefühl von Wohlbefinden ein, und die bösen Ahnungen, an die sie sich geklammert hatte, zerstreuten sich rasch. Sie wusste mit einer Gewissheit, mit der sie kaum jemals etwas anderes in ihrem Leben gewusst hatte, dass sie hier in Sicherheit sein würde und dass der Erwecker wohlwollend und ein Verfechter ihres Anliegens war.
Ihr wurde klar, dass dieses Wesen beruhigende parapsychische Wellen aussandte. Es würde niemals ihre persönlichen Rechte verletzen, indem es in ihr Inneres vordrang, aber es sprach mit ihr auf diese Weise, wie sie mit ihm mit Worten hätte sprechen können.
Telepathisch, anscheinend ohne den Gebrauch von Sprache und anscheinend auch ohne Bilder – denn ihr kamen keine Bilder in den Sinn –, schärfte der Erwecker ihr auf irgendeine verständliche Weise ein, wie sie auf die Zuchtfarm vordringen würden, wie sie die Angehörigen der Neuen Rasse, die dort arbeiteten, außer Gefecht setzen würden und wie Victor gefangen genommen werden konnte und seine Wahnsinnsherrschaft und sein Schreckensregime endlich ein Ende finden könnten.
Während all dessen wurde Carson langsam immer deutlicher bewusst, dass sie den Erwecker nicht konkret beschreiben konnte. Sie hatte den Eindruck, vor ihr stünde ein Ding von derart überirdischer Schönheit, dass Engel es nicht in den Schatten stellen konnten, einer Schönheit, die in jedem Detail bescheiden war und doch in der Gesamtwirkung derart majestätisch, dass sie nicht nur betört, sondern auch erbaut war. Hier hatte sie es mit einer Schönheit nicht nur der Gestalt, sondern ebenso des Geistes zutun, eines Geistes von so untadeligen Absichten und einer so redlichen Zuversicht, dass Carsons eigene, keineswegs unbeträchtliche Courage, Hoffnung und Entschlossenheit zu neuen Höhenflügen angeregt
wurden. Das war ihr Eindruck, ja, doch wenn sie aufgefordert worden wäre, die Gestalt zu beschreiben, die derart hochfliegende Gefühle in ihr aufkommen ließ, dann hätte sie nicht sagen können, ob sie zwei Beine hatte oder zehn, einen Kopf oder hundert Köpfe oder überhaupt keinen.
Sie kniff die Augen zusammen und strengte sich an, um wenigstens vage Konturen zu erkennen, eine grundlegende biologische Bauart, doch der Erwecker erwies sich als so grandios strahlend, dass sein Schillern sich der Fähigkeit ihrer Sinne zur genaueren Bestimmung entzog. Der Fackelschein, in dem die Wesenheit jetzt stand, schien sie in ein noch größeres Geheimnis zu hüllen, als es die Schatten getan hatten, aus denen sie auf sie zugekommen war.
Carsons ursprüngliche üble Vorahnungen wogten wieder in ihr auf und wuchsen sich zu Angst aus. Ihr Herz begann zu rasen, und sie hörte, wie ihr der abgehackte Atem stockte, stockte, stockte. Dann blinzelte sie und sah für die Dauer eines Augenblicks den Erwecker so, wie er in Wirklichkeit war, eine Blasphemie, ein
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