Frau an Bord (Das Kleeblatt)
nickte, schossen erneut Tränen aus ihren Augen. Natürlich war es albern, den Freunden nachzutrauern. Cat war seit einem halben Jahr tot, Beate wollte in Paris einen Neuanfang wagen und Karo hatte alle Hände voll zu tun mit ihren Babys und den gesundheitlichen Problemen ihres Mannes. Und sie, Susanne Reichelt, sollte endlich die Erinnerungen weit von sich schieben und vergessen, was sie nicht ändern konnte.
Der verwirrte, trostlose Gesichtsausdruck der Funkerin weckte seine Beschützerinstinkte. Mann-Frau-Instinkte, wurde ihm mit erschreckender Deutlichkeit klar, und die konnte er im Moment gebrauchen wie ein Loch im Kopf. Sie gab keinen Ton von sich und rührte sich nicht von der Stelle. Worauf wartete sie?
Wenngleich es ihm nicht zustand und obendrein seiner inneren Überzeugung widerstrebte, erkundigte er sich in dem für ihn typischen, beruhigenden Tonfall: „Wollen Sie … darüber reden?“
Bereits im nächsten Augenblick sprudelten die Worte wie ein Geysir aus ihr hervor, gerade so, als hätte sie lediglich auf diese Aufforderung gewartet. Scheinbar ohne Sinn und Zusammenhang, ohne Punkt und Komma, völlig wirr und durcheinander erzählte sie atemlos von einem Unfall und einer Freundin, von der sie sich nicht verabschiedet hatte, von guten Tieren, die noch studierten, und einem Diamanten in Paris. Er verstand kaum die Hälfte, was ihm jedoch nichts ausmachte, sondern ließ sich von der Faszination treiben, die einfach nicht von ihm weichen wollte.
Jäh stockte sie und schnappte mit einem tiefen, zittrigen Seufzer nach Luft. Der Schiffskoch spürte, wie sie sich innerlich blitzschnell von ihm zurückzog. Geradezu heldenhaft unterdrückte er den Wunsch, es zu bedauern. Vorsichtig hob sie den Kopf und blickte auf.
Fast glaubte sie, es wäre ihr letztes Bild von dieser Welt gewesen. Sie presste eine Hand gegen ihre Brust. Ihr Herz pochte nicht nur, es versuchte sich mit einem Vorschlaghammer durch das Brustbein zu arbeiten. Andere Körperteile schlossen sich dem Aufruhr an. Ihr Magen begann zu flattern, die Lungen weigerten sich, Sauerstoff aufzunehmen. In einem Moment geistiger Umnachtung spielte sie mit dem Gedanken, ihre Hände auf Wanderschaft gehen zu lassen, um herauszufinden, ob es ihm genauso erging.
Wow, war alles, was ihr einfiel. Und noch einmal wow! Erst dann versuchte sie einzuatmen.
Nicht allein sein sanftes , herzerweichendes Lächeln hätte als Vorlage für die Statue eines Engels dienen können. Vor ihr stand der bestaussehende Mann, der ihr je begegnet war. Wie betäubt nahm sie alle Einzelheiten in sich auf, das wunderschöne Augenpaar, welches sie zurückhaltend betrachtete und sich redlich mühte, nicht traurig auszusehen. Aber der wehmütige Ausdruck darin musste sich einfach tief in die Seele eines Menschen brennen. Sein trainierter Körper schien Bäume ausreißen zu können, sein klingengleiches Gesicht mit den hohen Wangenknochen hingegen war asketisch, verschlossen und spiegelte die Ernsthaftigkeit und Intelligenz eines Gelehrten wider. All ihre Sinne schienen auf ihn anzusprechen, auf seine Stimme, seinen Duft, diese herzlichen Kulleraugen. Sie spürte, wie ihr Herz geradezu unerträglich in ihrer Brust tobte, und senkte die Lider aus Angst, er könnte die auf sie einstürzenden Gefühle in ihrem Blick erkennen.
A ngestrengt überlegte sie, wie ein wildfremder Mann sie dazu bringen konnte, ihm ihre Geheimnisse zu offenbaren. Er hatte sie lediglich gefragt, nicht einmal sonderlich interessiert getan oder gar aufdringlich auf eine Antwort gewartet. Sie dagegen hatte sich auf ihn gestürzt wie auf einen Rettungsring. Irgendetwas ging von ihm aus, das sie nicht erklären konnte. Eine geheimnisvolle Macht möglicherweise, die er über sie ausübte. Ein Zauber gar, mit dem er sie zum Sprechen gebracht hatte?
Aber ihre Tränen gingen ihn nichts an! Niemanden hatte das zu interessieren! Selbst diesen süßen Jungen nicht. Ob sie nun an seiner breiten Brust gelegen hatte oder nicht, spielte dabei keine Rolle.
Sie wand sich aus seinen sehnigen Armen. Nervös auflachend trat sie einen Schritt zur Seite. Und dann noch einen. Es war nicht leicht, ihm in die Augen zu schauen, weil ihr Blick wie von selbst immer wieder nach unten sackte. Obwohl sie sich redlich dagegen wehrte, lief ihr ein wohliger Schauer über den Rücken, worauf sie den Abstand zwischen ihnen noch weiter vergrößerte.
Sie konnte sich nicht erinnern, dem Mann während der vergangenen beiden Tage an Bord begegnet zu
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